01.06.20

Nadine hatte auch diese Qualitäten, ich nehme mal an, weil sie mit einer selbstständigen Mutter aufgewachsen ist. Genau wie ich. Sie war von Innen heraus lebendig wie Luzie, voller Lust auf Leben, ob sie lachte oder weinte. Sie war 17 Mississippi, und ich Huckleberry Finn.
Und hatte Nadine uns nicht gerettet? Sie war es doch gewesen, die uns den alles auslösenden Impuls gab uns selbst zu helfen. Das kann sowieso niemand anders für einen tun, da muss man schon immer selber ran. Die Erwartung von einer Frau vor sich selbst gerettet zu werden ist genauso falsch, wie andersherum auf einen Prinzen zu warten. Wir Normalsterbliche müssen uns damit abfinden keine Thronfolger zu sein, auch keine vor Häschern versteckten, sondern bestenfalls Königsmörder mit der Absicht eine Republik auszurufen.
Darum sagte ich: „Weißt du was? Das ist eine verdammt gute Idee.“
„Siehst du?“, sagte Nadja zufrieden. „Ich habe es immer noch drauf.“
„Allerdings.“
„Eins noch: könntest du den Zwillingen mal auf den Zahn fühlen? Ich habe da ein ungutes Gefühl, dass sich da in den letzten Wochen was verschoben hat, von dem ich nichts weiß.“
Oh, oh. Minenfeld. „Werd ich machen“, sagte ich und verkniff mir nachzufragen.
„Danke dir.“ Nadja seufzte.
„Was hältst du eigentlich von diesem Mario?“, fragte ich zu meiner eigenen Überraschung in einem Moment der Unachtsamkeit.
„Mario? Der ist entwaffnend aufrichtig und gleichzeitig unendlich höflich.“
„Ist er … Asiate?“ Komisch, dass mir die Frage vorher gar nicht in den Sinn gekommen war.
„Was? Nein, wie kommst du denn darauf?“
„Wegen … dem Vornamen.“
„Witzbold“, sagte sie und gluckste. „Mario ist ein Weißbrot, wie wir alle. Aus Potsdam.“
„Potzblitz“, sagte ich leise.
„Manchmal vermisse ich die Sterne“, sagte Nadja mehr zu sich
selbst, riß sich aber gleich wieder aus dieser Stimmung. „Dann mache ich jetzt mal weiter. Nochmal danke dir für’s zuhören.“
„Gern geschehen“, sagte ich. „Aber ich habe zu d…“ – aufgelegt. Na toll. Hatte sie sich über die Jahre bei Daniel angesteckt?

Richtig, ich könnte Nadja mit einem Weltraumspaziergang in Dunkeldeutschland ködern um zum Treffen zu kommen. Für sie war das ja kein abwertender Begriff für die DDR, sondern nur ihr Wunsch nach freier Sicht auf die Sterne. Dort wollte sie sein, dort, wo es keine Lichtverschmutzung gab, und man alle Sterne sah. Auch jenen, den sie für Valentin ausgeguckt hatte. Sie hat mir nie verraten, welchen Stern sie ansieht, oder welche Konstellation, aber sie sieht ihn dort oben, als den Kosmonauten, der sie einmal gewesen war. Sie war seine Bodenstation, durch einen unsichtbaren Draht mit ihm verbunden, und er konnte dort oben sicher zwischen den Sternen sein.
Nach Doris Rothe gegooglet. Kein Ergebnis. Wenig überraschend. Wenn ich nur wüßte, wie sie mit Mädchennamen hieß. Falls sie den überhaupt wieder angenommen hat. Sie könnte genauso noch einmal von vorne begonnen haben, wie ihre Tochter. Und was jetzt?

© Jens Prausnitz 2023

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