Und wenn es doch nicht allein die Menschen sind, die einen erziehen, sondern auch der Ort? Dann war Vilshofen mein Dorf. Aber erzogen hat es mich nicht. Vielleicht im Nachhinein, im darüber nachdenken. Wäre Vilshofen so gewesen, wie in dieser einen Woche, dann hätte es mich gerne erziehen dürfen.
Moment, nicht Vilshofen war mein Dorf, sondern das Gymnasium! Dort habe ich ja die meiste Zeit verbracht. Oder meinetwegen grundsätzlich in der Schule eben. Genauer: unsere Klasse ist unser Dorf. Die Lehrer wechseln, wie später auch die Arbeitgeber, aber die Klasse bleibt. Es braucht eine Schulklasse, um einen zu erziehen. Die 5a, 6b, 7c oder 8d – Gruppenidentifikation, ausgewürfelter Stolz. Eine Gruppe, nicht größer als 30, aber besser auch nicht weniger als 20. Genug um nicht den Überblick zu verlieren, aber Potential für Untergruppenbildung, die sich nicht mehr einig sind. Was man dann gemeinsam ertragen lernt, prägt sich ein. Nicht was die Lehrer tun speichern wir ab, sondern was die Mitschüler tun. Da braucht es nur einen, der sich gegen das System stellt, und dann beginnt der wahre Unterricht, den wir dann verinnerlichen. Bricht der Charakter? Wird er aus der Klasse entfernt? Fällt er durch? Oder genauer: bleibt man sitzen, weil man aufgestanden ist? Für die Klasse ist es egal, denn weg ist weg.
Wir hatten das Glück, dass Lukas so früh bei uns landete. Als lebender Beweis für ein Leben nach dem Tod. Verlorene Freunde und ehemaligen Mitschüler sind wie Medien, unsere Seance über die wir Kontakt mit anderen, uns unbekannten Welten Kontakt aufnehmen, von denen wir vorher nicht einmal zu träumen wagten. Was wäre wenn … wir auch sitzenbleiben würden? Oder eine Klasse überspringen dürften? Regression oder Transzendenz, auch das ein Klassensystem, Paralleluniversen, der a-b-c-d-Ordnung. So machte jeder mehr oder weniger in seiner Klasse die gleiche Erfahrung, nur durch die Sitzenbleiber, Austauschschüler und Wechselbälger bekamen wir Einsicht in das Leben außerhalb unseres Horizonts.
Die Neuzugänge kannten dann oft nicht unsere schrägen Gepflogenheiten, an die wir uns längst gewöhnt hatten. Etwa in den Farben der Bayrischen Fahne zum Sportunterricht zu erscheinen: Weißes T-Shirt, Blaue Sporthose. Wer in anderen Klamotten kam, durfte Extrarunden laufen. Für das Gedächtnis. Frei nach dem Motto: „Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben.“ Extrarunden zum Aufwärmen waren ursprünglich wohl nicht damit gemeint gewesen. Das hatte immer diesen unangenehmen Hauch von Sadismus dabei. Manchmal auch als Brise. Oder Orkanböe.
Wie hieß der nochmal, der ein zweiten Mal nicht so wie gewünscht erschien, und dann versuchte ein Grundlagengespräch zu führen? Ich komme gerade nicht auf den Namen, aber daraufhin durften wir zur Belohnung gleich alle für den Rest der Stunde im Kreis laufen. Wahrscheinlich damit wir es ihm noch einmal verklickerten. Klöppl! So hier der Sportlehrer. Der Junge hieß … anders, und trug im dritten Anlauf endlich die korrekten Farben.