06. November 2019 – Nachtschicht

„Ich bin in einer Telefonzelle. Aus dem Schülerzeitungsbüro habe ich mich nicht getraut, weil da könnte wer mithören. Oder wer weiß ob meine Eltern dort nicht die Verbindungsprotokolle anfordern, wenn ich weggelaufen bin, und dann würde die das direkt zu dir führen.“
„Du denkst ja wie James Bond!“ Wer hätte gedacht, wie viel Geheimnisse man hinter Schülerzeitungen verbergen konnte? Erst unser Eulenspiegel als Codewort, und jetzt ermöglichte uns eine andere sogar abhörsichere Kommunikation.
„Na ja, eher wie die Stasi, mit der haben wir mehr Erfahrung. Erweist sich jetzt aber als ziemlich hilfreich. Das nächste Mal rufe ich dich Montag oder Dienstag an, hörst du? Da ist am frühen Abend Tischtennis in der Halle.“
„Du spielst Tischtennis?“
„Ja schon, aber das ist doch alles nur Tarnung? Ich muss doch irgendwie noch außerhalb der Schulzeiten aus dem Haus können, und da schöpfen meine Eltern keinen Verdacht. Ich bin jetzt schon ein paar Wochen dabei, und es ist so öde. Aber jetzt hör zu: ihr müsst euch was einfallen lassen, wo wir hinkönnen, wenn wir weglaufen. Bei wem wir wohnen, wovon wir leben. All das, ok?“
„Jaaaa…“ Ich schluckte, und die Pause wurde schon zu lang. „Ja klar.“ Schob ich schnell nach.
„Gut. Dann bis Montag, wenn alles gut geht. Seid vorsichtig! Tsch – -“
Noch ehe ich was einwerfen konnte, wurde die Leitung getrennt.
Nicht von der Stasi, sondern vom Kapitalismus. Ich blieb noch eine Weile regungslos sitzen, für den Fall, dass sie nochmal anrief, aber es passierte nichts. Ich saß nur im Dunkeln, denn die Fragen, die sie eben aufgeworfen hatte, überforderten mich. Darüber hatten wir noch überhaupt nicht nachgedacht. Was hatten wir denn bitteschön geglaubt, dass Nadine und Daniel sich wiederfinden und dann wie Bonnie & Clyde durch die Lande ziehen und Banken ausrauben würden?

Es war ein paar Wochen nachdem Daniel schon weg war und sich die Wogen bei uns langsam wieder glätteten, als mich auf der Post jemand ansprach. Ich holte etwas für Mutter ab, oder vielleicht war es auch eine Malibu-Bestellung, es spielte eh keine Rolle mehr, als mich die Postangestellte fragte, ob ich nicht vor einer Weile nach einem verloren gegangenen Brief gefragt hätte. „Eigentlich sogar zwei“, sagte ich. Sie lachte und verschwand kurz nach hinten. Als sie wieder kam, erkannte ich schon Nadine’s Handschrift. Die Adresse wäre nicht ganz richtig gewesen, und es stünde halt auch kein Absender darauf, stattdessen nur ein „Postlagernd von N.R. bitte“. Daneben war ein kleines Herz gemalt worden, und das gab wohl den Ausschlag dafür, dass er noch nicht im Schredder gelandet war. So war er in eine Kiste mit unzustellbaren Sammelobjekten gekommen, die einmal zu Neujahr entrümpelt wurde.
Mit ziemlicher Sicherheit handelte es sich dabei um den ersten Brief, denn dort stand im Prinzip das gleiche drin, wie in dem, der angekommen war, nur ausführlicher. Auch den Brief habe ich heute noch. Dort beschrieb sie den Moment, in dem ihre Welt für sie auseinander gebrochen war, als ihr Vater Daniel schlug. Damit hat er auch sie getroffen. Wie sie ihn gebissen hat und dann schweigend im Zug gesessen haben. Sie hat nie verwunden, dass Doris, dass ihre Mutter kein Wort gesagt hat, keiner von ihnen. Ich kann es mir nur so erklären, dass Doris genauso geschockt war, wie Nadine selbst.
Der zweite Brief ist aber nie aufgetaucht, den hat wohl das Postgeheimnis mit ins Grab genommen.

© Jens Prausnitz 2022

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