06. November 2019 – Nachtschicht

Irgendwas stimmt mit Schwester Anita nicht. Sie hat noch nicht mal in ihr neues Klatschheft reingeschaut. Auf meine Frage, ob mit ihr alles in Ordnung sei, meinte sie nur, dass sie mich nicht vom Schreiben abhalten wolle, weil sie zu langweilig sei. Was ist denn in die gefahren? Besser erst gar nicht mehr darauf ansprechen.
Natürlich zeigte ich als nächstes Lukas und Daniel den Brief. Sie mussten ihn mit eigenen Augen sehen. Da lag er am Montag zwischen ihnen im Trabi, auf Daniel’s Schultasche, die Fahrer- und Beifahrersitz überbrückte. Abwechselnd nahmen sie ihn in die Hand, lasen ihn noch einmal, und legten ihn ungläubig bis andächtig zurück. Daniel standen Tränen in den Augen, und die Stumpfheit darin war wieder dem alten Leuchten gewichen. Seine Finger strichen zärtlich über das Papier, und mir zerriß es die Seele. Es war ja trotz allem mein Brief. Ich hatte ihm alles ausgerichtet, und sie würde bestimmt am gleichen Abend anrufen, wenn sie den Antwortbrief aufmachte.
„Du bist dann auch bestimmt zu Hause?“ Daniel schluckte.
„Ja, jeden Abend jetzt. Natürlich. Ich sitze und schlafe neben dem Telefon. Mach dir keine Sorgen.“
„Und wenn deine Mutter telefonieren muss?“
„Was? Wieso? Mit wem denn?“
„Weil es bei euch brennt, oder einen Krankenwagen, weil – -“
„Jetzt mach mal halb lang, Daniel! Ich pass schon auf.“
„Wann’s anruaft und du grad am Klo bist?“
„Sehr hilfreich, Lukas. Danke.“ Ich verdrehte die Augen. „Ich hab ihr doch geschrieben, wann sie mich sicher erreicht. Das wird schon klappen.“ Dann wendete ich mich an Daniel: „Pack du lieber mal deine Sachen.“
„Das kann ich nicht. Sonst fällt es auf. Meine Mutter zählt glaube ich sogar die Sockenpaare in den Schubladen ab.“
„Deinetwegn?“
„Wegen meinem Vater. Wenn der mal was nicht gleich findet…“ „Ok, dann pack ich dir einen Rucksack mit Klamotten von mir“, fuhr ich dazwischen. „Wir haben doch eh die gleiche Größe. Du kannst auch gerne selber bei mir packen, dann passen wir beide auf das Telefon auf.“
„Danke, Mann.“
„Und vo mia gibt’s an Schlafsack und a Fresspaket für eine Woche“, sagte Lukas stolz. „Des hom mia ois scho fix und fertig, bevor’s aruaft. Kannst dich auf uns verlassn’a.“
Ich weiß noch, wie sich Daniel darüber gewundert hat, dass ich ihm mein Lieblingshemd mitgegeben hab. Das hatte ich zur Konfirmation selbst im Geschäft ausgesucht. Ich hatte darauf bestanden eins zu nehmen, das nicht weiß war und es seither auf jeder Party getragen. Daniel hatte es abgelehnt, aber ich bestand darauf, damit er mich nie vergisst und auch was eleganteres hat, falls er sich wo vorstellen muss. Es würde ihm Glück bringen. Das stimmte zwar alles, aber der Hauptgrund war der gleiche wie bei allen anderen meiner Klamotten: so war ich wenigstens auf diese Weise irgendwie näher bei Nadine. Wenn er sie in seine Arme nahm, war noch immer ich dazwischen, oder wenigstens dabei. Wie bei den Briefen oder Telefonaten auch. Und in das Hemd würde sie vielleicht eines Morgens schlüpfen, wie im Film, mit nichts drunter und darin barfüßig Kaffee trinken.

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