Das Blamage hatte seine Räumlichkeiten über dem Wirtshaus. Eine lange Treppe führte daran vorbei nach oben, mit jedem Schritt wurde es lauter, und dann stand man vor dem Wald. Drehte man sich nach links hinten um, stand man vor der Tür, aus der es so einladend lärmte. Dahinter verbarg sich vielleicht nicht gerade das Paradies, aber unser Refugium, unser Partykeller, unsere Oase, die rettende Insel, zu der wir immer zurück kehrten.
Geredet wurde dort nie etwas, dafür war es ohnehin viel zu laut. Außer man war Bier holen an der Theke, und auch da mussten es eher Handzeichen tun: Auf die Biermarke deuten, zur Not eins von denen, die gerade am Tresen getrunken wurden, zwei Finger hoch halten, nicken, fertig. Was will man da noch sagen? Alles, was es zu sagen galt, drückte bereits die Musik dröhnend aus.
Jeden Samstag lief manchmal aber etwas zwischen den bekannten und geschätzten Tracks, das man noch nicht kannte aber toll fand. Also ging man tatsächlich zum DJ um zu fragen, wie die Band hieß, anstatt sich nur was zu wünschen, das wahrscheinlich vor einer halben Stunde lief, während man noch am einparken war. Wurden die Fragen seltener, wurden es irgendwann auch die Besuche. Das Publikum veränderte und verjüngte sich, der Generationenwechsel spülte die alte Garde von der Tanzfläche zurück in ihre Autos. Nach fünf Jahren kannte dann auch Lukas niemanden mehr, er war plötzlich selbst zu einem der jetzt alten Ausdruckstänzer geworden, denen nur noch ein oder zwei Songs blieben, um sich auf der Tanzfläche auf die Knie zu werfen, wo man dann bei ohrenbetäubend lauter Musik seine Sorgen auswrang, und in Schweiß übersetzte. Smells like you don’t wanna know.
Im Circus Gammelsdorf war noch alles mit Kurt in Ordnung gewesen, man war unter sich. Alles stimmte und tröstete die Seele. Dann hatten sie zwei Jahre später diesen Scheiß-Hit, und ab da wurde alles genauso blitzschnell verscherbelt, wie die Betriebe in der DDR unter der Treuhand. Die zu großen Bühnen machten Cobain kaputt, und die Band dann aus Protest ihre Instrumente. Egal was für lärmige Songs sie auch schrieben, sie wurden den Erfolg nicht mehr los, und von Geld kann man sich keine Anonymität kaufen. Musik war Ventil und Rückzugsort, aber so ans Tageslicht und in die Charts gezerrt starb sie wie Dracula. Cobain war dem genauso wenig gewachsen gewesen, wie ich, als ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Nur ich hatte Glück gehabt. Er nicht. Oder war’s umgekehrt? Er kam tot in die Tagesthemen, ich war Jahre zuvor in Vilshofen jeden Tag Thema gewesen, weil ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Alle wussten es.
Da hörten plötzlich Leute unsere Musik, die uns vorher nicht mit dem Arsch angeguckt haben, und jetzt waren sie alle „Grunge“? Aus Grunge wurde „Cringe“, und wir wurden um unseren Soundtrack betrogen. Von da an nannten wir alles nur noch Rockmusik. Schluss mit den Labels. United by Rock’n’Roll.