27. September 2019 – Nachtschicht

Darum habe ich mich wegen der Schultersache für das Leiden entschieden, alleine, um es von anderen abzuwenden. Ich schmiss mich auf die Granate, die außer mir niemand gesehen hatte.

Lukas hatte da schon nur noch Augen für seine Monika, und Daniel löste sich komplett in Nadine auf, war gar nicht mehr richtig da. Seine Schutzmauer war weg, er zeigte sich ihr in seiner ganzen Verwundbarkeit, lag offen herum wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem jeder lesen konnte. Er sah nicht, dass ich sie auch liebte.

Wir saßen nach dem Frühstück zusammen, und ich hatte nach Tiefenbach und Passau telefoniert, aber Robert Rothe war noch immer nicht dort aufgetaucht. Auch im inzwischen eigens für den Suchdienst des Roten Kreuzes eingerichteten Zelt gab es noch keine Neuigkeiten, denn die Rothes waren beileibe nicht die einzige Familie, die auf der Flucht getrennt worden war.

Lukas tröstete gerade Nadine mit „Der Johann woas bestimmt no epse“, Daniel nickte zustimmend und der hoffnungsvolle Blick von Nadine ließ mich ebenfalls nicken, aufstehen und uns alle zusammen zum Bundesgrenzschutz gehen. Als wäre ich heute nicht schon zweimal deswegen dort gewesen, aber die Verlängerung der Hoffnung um fünf Minuten gab mir fünf Minuten um einen neuen Plan zu entwickeln. Quälend lange fünf Minuten, wenn einem nichts einfällt, außer das man gerne eine gute Nachricht hätte, deren Überbringung vielleicht den Ausschlag gäbe, dass sie sich in einen verliebt, und nicht in den eigenen besten Freund, oder das der Zelteingang sich von einem entfernen möge, das Jean-Michel es aus total logischen Gründen während des Frühstücks ans andere Ende vom Lager verlegt haben könnte. Alles, nur bitte keine Entscheidung.

Ich sehe sie noch draußen auf der Bank vor mir sitzen, Nadine links, Lukas in der Mitte, Daniel rechts. Dahinter drängten sich Menschen Richtung Anmeldezelt, als gäbe es dort Gratis-Impfungen, und nicht nur Formulare zum Ausfüllen. Die Schlange führte am Anschlagbrett vorbei, auf das jemand „BRDDR = alles deutsch!“ geschrieben hatte.
„Hier geht’s ja mehr zu, als auf dem Stadtplatz“, staunte Daniel, während ich ins Zelt ging. Alle drei konnten sie draußen mein Gespräch mithören, nein, noch immer keine Meldung von der Grenze, ja, die Kollegen wissen dort, dass sie einen Dr. Rothe nach Vilshofen schicken sollen, wäre ja einfach zu merken, Rothe, wie Rotes Kreuz mit „h“. Dann den Kopf schütteln müssen und Nadine wie in Zeitlupe aufstehen sehen. „Ich sag meiner Mutter Bescheid“, und wie sie dann hinten um die Bank herum ging, dabei wie beiläufig Daniel’s rechte Schulter berührte, versetzte mir einen Stich ins Herz, es schlug so hart, dass die Trommelfelle in den Ohren schepperten, ich war einen Moment taub. Der losgelöste Teppich unter der Snare raschelte noch, dann war es still, bis auf ein hohes Fiepen in den Ohren, als der Schalldruck nachließ und die Wände wieder näher kamen, wie im Proberaum.

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