Daniel war immer noch mein bester Freund, und die Situation schwierig genug. In der kurzen Zeit hatte ich auch Nadine lieben gelernt, und wusste, dass sie beide gut füreinander sein würden. Mehr als das, sie waren perfekt. Und eigentlich wusste ich alles über Nadine nur von Doris, nicht von ihr selbst. Ich sah sie durch ihre Augen, nicht meine, und eigentlich war es Doris, für die ich mich interessierte. Das versuchte ich mir tatsächlich einzureden: dass ich eigentlich Doris liebte, nicht Nadine. Wünschte ich mir das deswegen so, weil es dann Daniel nicht verletzen würde, den ich schon so viel länger liebe, und genau kenne, vielleicht besser, als mich selbst? Wenn dein bester Freund und du das gleiche Mädchen lieben, was bleibt einen dann übrig? Ich hab halt so getan, als hätte ich mich in ihre Mutter verguckt. Ein bisschen stimmte das ja, nur mehr war da nicht, das war nur eine Schutzbehauptung, vor allem vor mir selbst, obwohl Lukas später dazu meinte: „Des passt zu dir, Johann.“
Früher oder später fliegt einem diese Lüge, dieser Selbstbetrug um die Ohren. Die Granate explodiert nicht gleich in dem Moment, aber der Sicherungsstift ist raus. Und wenn man die nicht wegschmeißt, dann werden einem irgendwann die Muskeln schwach, und wünscht sich nur noch einen schnellen Tod. Ein großer Schmerz und dann ist es endlich vorbei, dann herrscht Ruhe. Das ich das nur als emotionales Wrack überleben würde, konnte ich unmöglich wissen. Nur dass ich das, was ich heute sehe, jetzt auch damals gesehen zu haben meine, in Ansätzen, erste Anzeichen, in ihr genauso wie in ihrer Mutter. Wie sehr hat Doris mich in dem beeinflusst, was sie mir über ihre Tochter erzählt hat? Die Grübchen? Wann immer ich versuche, das auseinander gedröselt zu bekommen, sehe ich wieder vor mir, wie ihre Finger Daniel’s Schulter berühren, beiläufig und schwerelos.
© Jens Prausnitz 2022