Rügen – Herbst 2019

Wie man so überzeugt vom eigenen Urteilsvermögen sein konnte, war mir ein Rätsel. Ich hab mir immer gewünscht selbstbewusster zu sein, aber doch um Himmels Willen nicht so. Niemals. Bitte.
„Wenn ich dir einen Rat geben darf: geh nie gleich mit ihr in die Kiste.“
Ganz schön übergriffig, aber vielleicht hatte er ja doch etwas aus der Sache mit mir gelernt und war seitdem vorsichtiger geworden? Ich bezweifelte es.
„Geht zuerst Essen. Lass sie bestellen, egal wie teuer. Da ist jeder Pfennig gut angelegt.“ Er griff sich mit beiden Händen andeutend unter die Brust. Dann lehnte er sich auch schon schmierig zu mir herüber und flüsterte den Satz, der mir heute noch Gänsehaut bereitet:
„Wie eine Frau ißt, so ist sie auch im Bett.“
Der einzige Rat, den er mir gab, hatte ausgerechnet mit Sex zu tun.
Dabei willst du doch nicht an deinen Vater denken. Oder deine Mutter. Du willst an gar nichts denken.
Es ist auch gar nicht beim Sex selber, dass ich an meinen Vater denke, sondern beim Essen. Also wenn ich Frauen beim Essen zuschaue. Oder seitdem eher beobachte. Was sie bestellen, wie sie es ansehen, ob sie zurückhaltend essen, sich darauf stürzen, ob sie kleckern, welche Geräusche sie dabei machen, ob sie sich mit der Serviette abtupfen oder eher mit dem Ärmel über den Mund wischen, einfach alles, und ich hasse mich dafür. Oder besser gesagt: ich hasse meinen Vater dafür. Weil das immer sein Blick war, nicht mehr meiner. Der Blick von jemandem, der am guten Sex hinterher interessiert ist, und kein bisschen an dem was die Frauen währenddessen von sich erzählen. Ich ertrug es nicht, dass er meine Mutter genauso angesehen haben musste. Vom Nachtisch zur Nachgeburt, ich kam dazwischen überhaupt nicht vor.
So wollte ich nie werden. Wie soll das gehen? Seine eigenen Kinder nicht aufwachsen sehen, 15 Jahre nicht dabei sein. Ich brauch eine Zigarette.

Bin wieder im Hotel. War im Café am Fenster gesessen, und da ist es mir zu kalt geworden. Draußen frische Luft zu schnappen hat gut getan, die rechte Hand ist jetzt noch immer eiskalt, weil die ja die Kippe halten musste. Kann mir ja eine Packung Heilkreide anrühren, wobei die Steifheit ja von der Kälte herrührt, und nicht von Rheuma. Jetzt hatte ich einen Kaffee, so bittere Brösel-Plörre zum Aufgießen, aber an der Tasse konnte ich immerhin meine Finger wärmen.

„Wie eine Frau ißt, so ist sie auch im Bett.“ Dieser Satz hat sich mir eingebrannt, und auch wenn da was dran ist, ist meine Beobachtung doch eine andere. Nicht großartig anders, aber eben doch fundamental. Die Essgewohnheiten sind tatsächlich ein Spiegel ihres Körperbildes, so weit, so richtig. Aber die interessante Frage ist, wie die Frauen gegessen haben, als sie noch kleine Kinder waren. Da gibt es noch keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen, gegessen wird mit beiden Händen und die Mahlzeit werden zu gleichen Teilen in den Mund, um den Teller herum und auf den Klamotten verteilt (wohlgemerkt nicht nur den eigenen), ohne Rücksicht auf klebrige Finger oder die mehr oder weniger begeisterten Fütterungsberechtigten. In der Phase ist ihr Körperbild noch intakt, hat nichts mit Sex zu tun, aber schon da fängt es an, dass bei Mädchen andere Maßstäbe angelegt werden, als bei Jungs.

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