Rügen – Herbst 2019

Wie er war, kann ich überhaupt nicht sagen. Mein Bild von ihm als Kind war überlebensgroß, verzerrt. Darüber hinaus wusste ich nur das bisschen, was mir Mama erzählt hatte. Opa hat ihn wohl nie gemocht, aber wahrscheinlich hat er auch pauschal alle Jungs für nicht gut genug befunden. Im Falle von meinem Vater hat es leider gestimmt. Ob Mama vielleicht auch mehr von ihm weg wollte, also von Opa? So wie Daniel aus seinem Zuhause? Da weiß ich erstaunlich wenig drüber.
Jedenfalls wollte Mama nicht länger beschützt und behütet werden. Und da mein Vater alles andere, als ein Beschützertyp war, muss er ihr wohl richtig vorgekommen sein. Dass er nicht mal für sich selber sorgen konnte, konnte sie da ja höchstens ahnen. Aber wie denn, wenn man gerade verliebt ist?
Eine Sache hatte ich dann doch von meinem Vater: auch ich rauche. Gut, Mama auch, aber angefangen habe ich weil er ja eigentlich nur zum Zigaretten holen war, und nicht wieder kam. Jedenfalls hatte ich das lange geglaubt. Was ich nicht wusste war, dass er nach ein paar Wochen eben doch wieder angekrochen gekommen war, Mama ihm dann aber nur noch seine gepackten Sachen im Koffer vor die Tür stellte. Den hatte sie schon vorbereitet unter dem Bett liegen gehabt. Kann auch sein, dass sie ihn den nur aus dem Fenster nachgeschmissen hat. Vielleicht hat sie ihn auch versehentlich damit getroffen, weil er nicht schnell genug lief.
Noch heute denke ich jedes Mal an ihn, wenn ich mir Kippen kaufen gehe. Als wäre ich ihm wenigstens dann näher, weil er könnte ja vor mir in der Schlange stehen, oder gerade gegangen sein. Vielleicht stellte er sich auch gerade hinter mir an und würde mich anlächeln, wenn ich mich umdrehte. Aber da war nie jemand. Früher wurde mehr geraucht.
Eine Sorge, die mit mir wuchs war: Würde er mich noch erkennen, wenn ich schon 8, 12, 18 bin? Und wie verhielt es sich andersrum? Würde ich ihn noch wiedererkennen, aus der Erinnerung eines Sechsjährigen? Die Antwort auf Letzteres ist ja. Und auf Ersteres, dass er seinen eigenen Sohn als 21-jährigen nicht wiedererkannte.
Wir waren schon nach Aachen gezogen, Mutter und ich. Meine Ausbildung zum Kinderkrankenpfleger hatte ich gerade beendet und meinen ersten Job würde ich in Kürze antreten. Was mir fehlte war ein Schlussstrich. Meine Ausbildung war abgeschlossen, und damit auch der symbolische Übertritt zum Erwachsenendasein. Ein Schritt, den mein Vater nie richtig gemacht hat, wenn stimmte, was Mama erzählte. Ich wollte weder ihn noch solche Gedanken länger mit mir herumschleppen, sonder das was-wäre-wenn und alles andere mit ihm zusammenhängende hinter mir lassen. Die Adresse hatte ich gehütet wie meinen Augapfel. Ich habe so oft Angst gehabt, mein Vater würde schon umgezogen sein, dass ich ihn dann nie wiederfinden würde. Das einzige, was ich beinahe nicht wiedergefunden hätte, war der Zettel, weil ich sein Versteck so oft gewechselt habe. Insofern passt der Vergleich nur, wenn ich ein Glasauge hätte, das mir ständig herausfällt. Der Zettel steckte abwechselnd in CD-Booklets, in Büchern, und sogar unter dem abblätternden Furnier meines Schreibtisches versteckt. Anschließend vergaß ich wo, fand dann bei der Suche aber regelmäßig neue gute Verstecke – ein Teufelskreis. Aber mit der Adresse in der Hand war es dann am Ende fast enttäuschend einfach gewesen.

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