Rügen – Herbst 2019

Mein Vater erzählte noch dies und das, und dabei interessierte ihn offensichtlich gar nicht, was ich davon hielt, oder ob ich das hören wollte. Es genügte, dass ich in den richtigen Momenten nickte oder lächelte, während ich eigentlich studierte, wie er aussah. Ungepflegter, als er auf den ersten Blick auf mich gewirkt hatte: Die abgetretenen Schuhe unter dem eher neuen Trainingsanzug, der an den falschen Stellen spannte, wenn er sich streckte, die trockene, rissige Haut seiner Hände, während das Gesicht unter Feuchtigkeitscreme erstickte, der zu intensive Geruch eines Deos, das hoffentlich nicht allzu entzündlich war, weil es mir in der Nase brannte. Er bot das Bild von jemandem, der Angst vor dem Altwerden hat, ohne sich tatsächlich um seinen Körper zu kümmern. Fehlende Konsequenz bei allem, was sie anpacken. Ich sehe solche Kerle jede Woche kurz in der Notaufnahme rumstehen. Die neigen zwar seltener zu Gewalt, aber interessieren sich mehr für die Neuzugänge in ihrem Bundesligaverein, als für den eigenen Nachwuchs. Und immer behalten sie die Autoschlüssel in der Hand, sind immer auf der Flucht, auf dem Sprung, aber nie irgendwo angekommen.
„Danke für die Kippe“, sagte mein Vater, stand auf und machte sich wieder an die Arbeit.
Danke für nichts, dachte ich, und warf ihm spontan die ganze Schachtel zu, die er geschickt auffing.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, rief er mir nach.
Allerdings. Da hatte er ausnahmsweise mal recht. Beinahe hätte ich gesagt, dass die Kippen eh nur schlechten Atem machen, stattdessen kniff ich die Lippen zusammen und verbeugte mich zum Abschied, meine Vorstellung war hiermit beendet. Dann drehte ich mich um und sah ihn nie wieder.
Ich war kein bisschen wie mein Vater, genauso wenig wie Daniel seinem ähnelte. Aber die Frage stellt sich wohl jeder früher oder später. Außer vielleicht Lukas. Bei dem verlagerte sich das mehr zu seinem älteren Bruder, und in dem Fall konnte man das sowieso nur bejahen, da waren wir uns alle einig.
Selbst der abwesende Vater in meinem Kopf war väterlicher gewesen, als dieses Elend in Gmund. Dorthin hatte ich alles projiziert, alle guten Eigenschaften versammelt, die ich an anderen Vätern beobachtet habe. Ein idealisiertes Bild mit dem Gesicht meines Vaters, dem niemand hätte gerecht werden können. Unmöglich. Ein Wunschkonzert, dessen Repertoire sich niemand jemals hätte draufschaffen können. Das war mir schon damals bewusst gewesen, aber dass so rein gar keine Übereinstimmung oder wenigstens Überraschung in ihm steckte, tat dann doch weh.
Vielleicht wäre mir etwas aufgefallen, wenn ich länger geblieben wäre, oder mich zu erkennen gegeben hätte, aber ich bezweifle es. Damit hätte ich ihn nur in die Flucht getrieben oder alles noch schlimmer gemacht. Dieser Mann hatte vor 15 Jahren aufgehört Teil meines Lebens zu sein, und ich war derjenige, der die ganze Zeit nicht losgelassen hatte. Da kann ich doch jetzt nicht einfach Adressen tauschen und zu Geburts- und Feiertagen anrufen.
Wäre da nur ein Aufblitzen des Erkennens in seinen Augen gewesen, irgendwas, das darauf hätte schließen lassen, dass er wusste, wer ich war, ich hätte ihm alles verzeihen können. Aber da war nichts. Ich hatte ihn sofort erkannt, konnte ihn für die Zeit, die ich ihm nachgegangen war deckungsgleich mit meinem Phantom-Vater sein lassen, der mich über die Jahre begleitet hatte, aber wie war es für ihn gewesen? Im besten Fall war ich für ihn der Sechsjährige geblieben, den er zuletzt gesehen hatte, eingefroren wie eine Tiefkühlsuppe, auf die man doch nie Appetit hat, und die ganz hinten an der Wand klebt. Ich hatte keine Fragen mehr an diesen Mann, für den ich zu existieren aufgehört hatte, als er damals die Tür hinter sich zu zog, und wie er jetzt seinen erwachsenen Sohn vergaß, nachdem er sich wieder dem Lackieren der Rutsche zuwandte.
Tut gut mir das mal von der Seele zu schreiben. Er kann mir mal die Rutsche runter rutschen, die er damals gestrichen hat, und sich heute die absplitternde Farbe unter den Fingernägeln einziehen.

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