Rügen – Herbst 2019

War jetzt doch draußen. Wenn man sein eigener Bringdienst, oder der von einer guten Geistererscheinung ist, dann macht einen das wacher. Vor allem wenn einen dabei die Seeluft durchpustet. Auf dem Weg zum Bäcker habe ich eine Abkürzung genommen und bin über einen Zaun geklettert. Erst auf dem Rückweg fiel mir auf, dass ich das vorhin so ähnlich beiläufig gemacht hatte, wie mein Vater, als er meinen Ball holen war. Jetzt stand ich mit der Brötchentüte im Arm davor und kaute auf einem frischen Buttercroissant. Ähnlich grüblerisch war ich 1989 mit meinem ersten Döner vor der Mauer gestanden. Hatte ich damals als Baby auch etwas gegessen, dass mir dieser Zaun so im Gedächtnis geblieben ist? Wenn ja ist es bestimmt besser, dass ich mich daran nicht so genau erinnere. Kaut man sich Erinnerungen etwa direkt ins Gedächtnis?
Ich frage mich, ob ich den Zaun wiedererkennen würde – vielleicht wenn ich dabei auf die Knie ginge? Als Kleinkind erschien er mir so unüberwindbar, wie die Berliner Mauer auf dem Kirchentag. Durch den Zaun konnte ich den Ball auf der anderen Seite sehen, und doch war er weg. Die DDR konnte ich in Berlin von einer Aussichtsplattform aus sehen, ebenso wie mich umgekehrt die Wachposten drüben. Hier aufgekratzteTouristen, dort gelangweilte Soldaten. Unüberwindbare Hindernisse, alle zusammen. Eine Schwelle zum Tod, eine Warnung, alles dahinter unerreichbar, obwohl in Sichtweite. Ich Orpheus, Ball Eurydike.

Eine Kippenpause später. Eigentlich war ich ja wieder bei meinem Vater. Es ging mir nicht um das Hindernis, sondern um die Bewegung, mit der er es überwunden hatte. Ich wusste nicht, das Menschen dazu in der Lage waren. Gut, ich damals ganz sicher nicht, aber dieser Sprung über den Zaun! Darum hat er sich mir eingeprägt. Ein magischer Trick, mit dem man dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte. Als würde Orpheus dabei zusehen, wie jemand anderes ihm seine Eurydike aus dem Hades rettet, und statt seiner stirbt. Oder halt einfach mit dem Ball zurück kommt, und dann auf nimmer wiedersehen verschwindet. Das ist doch das hoffnungsvollere, schönere Ende, oder nicht? Alle am Leben, wieder vereint. Keine tragische Wendung auf dem letzten Meter. Mein Vater, der beim Sprung mit den Zehen am Zaun hängen bleibt, wie ich beim Bocksprung, auf die Fresse knallt und dann dort verhungert. Das wäre mir auch im Gedächtnis geblieben. Ich glaube, mit dem unsichtbaren Vater bin ich besser dran. Und mit diesem Blick auf die Wiese, wo mal mein Ball lag. Dort blüht es nicht grüner, als hier. Ich bin schon hier ziemlich glücklich. Und am Ball.
Der Ball ist lange weg, vergessen. Dafür habe ich heute selbst den Sprung gewagt. Nicht so elegant, wie ich es von meinem Vater in Erinnerung habe, aber immerhin. Ich kam stolpernd auf der anderen Seite zum Stehen, und damit habe ich mehr überwunden, als nur den Zaun. Was ich hinter mir gelassen habe, ist die erste Erinnerung an meinen Vater. Metaphorisch wie praktisch. Jetzt kann ich auch das selber, ich bin nicht mehr auf seine Hilfe angewiesen. Ja ich kann sogar für andere über Zäune springen, wenn ich es möchte.

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