08.01.20

„Ach, ich hatte so eine Ahnung.“ Dann erzählte ich ihr die Vorgeschichte und musste dabei viele Pausen machen, weil Nadja Tränen lachte.
„Da kommt er nach mir“, meinte sie am Ende und ich war froh, dass sie nicht sehen konnte, wie ich rot wurde.
Zu der Zeit hatte Nadja wieder damit begonnen in einem Hostel auszuhelfen. Zunächst nur in Teilzeit, später fest. Sie liebte von Anfang an den Kontakt mit Menschen aus aller Welt, in erster Linie junge Menschen, die sie an sich selbst und Daniel erinnerten, wie sie 1990 in Berlin angekommen waren, mittel- und planlos, in Wohncontainern. Die genossen heute eine ungekannte Freiheit, fühlten sich überall sicher, suchten sich vergeblich auf Selbstfindungsreisen, von naiv bis abgebrüht, von bekloppt zu genial war alles dabei. Sie arbeitete an der Rezeption und wurde so oft gefragt was man in Berlin ansehen sollte, wie man hierhin oder dorthin kam, dass sie anfing davon genervt zu sein, und manche absichtlich in die falsche Richtung schickte.
Am liebsten waren ihr die gewesen, die selbst nicht wussten, was sie ansehen sollten, die vom Angebot und der Größe der Stadt überfordert waren. Denen war sie gerne ein Kompass, schickte sie in ein Museum oder eine Bibliothek – Hauptsache an einen Ort, wo sie zunächst mal mehr in sich selbst hinein horchen konnten.
Dabei hörte sie selbst immer besser zu, was die Neuankömmlinge erzählten, wo sie herkamen, welche Sprachen sie wie gut beherrschten, welche Lieder sie sangen, sah manchen bereits an ihrem Gepäck an, wie sie tickten, und entwickelte ein intuitives Gespür dafür, was sie erleben sollten. Es sei wie nach einem fehlenden Puzzlestück zu suchen, das von der Tischkante gerutscht war, beschrieb Nadja ihre Einstellung. Noch vermisste es niemand, so sehr am Anfang der Motivsuche standen viele. Ein Puzzle ohne Schachtel, ohne Bild, das einen anleitet, ohne gucken. Was Nadja ihnen gab, war ein Stück vom Rahmen, eine Kante, an der sie sich stoßen würden, wo es für sie nicht weiter ging. Eine Perspektive, etwas wogegen man mit dem Rücken gelehnt stehen konnte, und einen Überblick auf das bekam, auf das man in seinem Leben Einfluss hatte. Je mehr sich dann vor einem ein Bild formte, desto mehr löste man sich von der Wand hinter sich, ja stieß dieses Puzzlestück selbst wieder ein zweites Mal vom Tisch, und konnte sich mit genug Erfahrung nun auch in die Richtung ausdehnen, wo es zuvor nicht weitergegangen war.
Manche Gäste hatten sich über Nadja beschwert, andere sich überschwänglich bedankt, so dass die Geschäftsleitung nicht so recht wusste, was sie von diesem Feedback halten sollten, beschäftigten sie aber weiter. Das war ihr Glück, denn Nadja wurde mit der Zeit immer besser, in dem was sie tat, und als dann die ersten Gäste kamen, die aufgrund der Empfehlung anderer ihretwegen dort abstiegen, obwohl es billigere Hostels in der Stadt gab, bot man ihr eine Vollzeitstelle an.
„Für mich ist das wie der Weltraumbahnhof, auf den ich immer wollte. Aber nicht um Kosmonautin zu sein, nicht um selbst zu den Sternen zu reisen, oder um deren Reisen vom Boden aus zu betreuen, sondern … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – die Karte, das Navigationssystem, die Versorgungskapsel?“
„Die Gäste offenbaren dir ihre geheimsten Lichter, und du eröffnest ihnen Räume, in die nur sie hinein scheinen können. Du bist ihr Leitstern. Wie für Seefahrer auf dem Meer, die die Orientierung verloren haben, lichten sich die Wolken und weist ihnen den Weg.“
Trotzdem hatte Nadja ihr Studium beendet, aber sich dagegen entschieden dort eine Karriere anzustreben. Daniel war erst nicht so begeistert gewesen, aber andererseits verdienten beide jetzt auch ohne Studium gut genug, um sich über die Runden zu bringen. Über die Jahre musste ich auch immer seltener einspringen, und die Besuche verlagerten sich wie von selbst mehr in die Richtung der Schulferien. So haben wir zu dritt die Carearbeit bestritten, und ich kann noch immer nicht glauben, dass sie bald volljährig sind.

© Jens Prausnitz 2023

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