„Wahrscheinlich ist er deinetwegen nur nervös, weil du deine Schwester auf eine Art und Weise kennst, die er nie verstehen wird. Vielleicht merkt er nicht einmal, dass er das kompensiert, indem er dir Dinge madig macht.“
„Danke, Smörre“, sagte Dennis. „Da ist aber noch was. Weißt du, Clara macht seit sie Mario kennengelernt hat Fotos von sich vor dem Spiegel wie sie auf ihr Telefon guckt.“
„Du meinst Selfies?“
„Nein, da würde sie in die Kamera schauen. Sie fotografiert ihr Spiegelbild. Von weiter weg, verstehst du? Dass man mehr von ihr sieht? Sie kontrolliert wie ihr Körper aussieht, in welcher Pose.“
Das war mir in der Klinik auch schon begegnet, wenn auch nicht als Krankheitsbild, sondern als übliches Verhalten von Mädchen in dem Alter. Ich dachte zuerst, das sei heute besser als früher, als sie ihr Spiegelbild noch ohne Telefon studiert haben, weil die Bildschirme so klein sind, aber die zoomen dann herum und sehen nur noch Problemzonen. Die Filter machen es noch schlimmer. Und es bleibt nicht mehr im eigenen Kinderzimmer, sondern die Meinung der halben Welt wird eingeholt. Was für eine Pest.
„Niemand geht mit Bilder aus“, sagte ich zu Dennis. „Eine Frau ist schön, wenn sie sich in ihrem Körper wohl fühlt. Da gibt es keine Problemzone mehr, sondern nur noch Amazone.“
„Das gefällt mir – darf ich dich zitieren?“
„Nur zu. So wie du deine Schwester anguckt und sie dich, so müssen das auch alle anderen tun und aushalten. Wenn nicht, sind sie eh nicht die Richtigen für euch.“
Das erinnert mich daran, als die Zwillinge gerade in den Kindergarten gekommen waren, und wir zu Hause zum ersten Mal gemeinsam Pizza backen wollten. Weil sie sich auf keinen Belag einigen konnten, durften beide ihre eigene nach Lust und Laune belegen. Während sich die Nebelschwaden aus Mehl in der Küche langsam wieder legten, wurden sie endlich ruhiger, aber Dennis schien etwas auf der Seele zu liegen. Man konnte es ihm ansehen.
„Soll ich doch noch Salamischeiben abschneiden?“ Bot ich ihm an. Dennis presste die Lippen fester aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Er isst keine Salami mehr, seit er weiß, dass dafür Tiere sterben müssen“, erklärte Clara für ihren Bruder.
„Ah, ok. Gibt ja auch genug andere leckere Sachen, die man auf die Piz…“
„Es geht überhaupt nicht um die Pizza, sondern um Gesine! Die ist doof! Und häßlich!“
„Dennis, wie fändest du es, wenn jemand so über deine Schwester reden würde?“
Clara sah auf und ihren Bruder betreten an.
„Da weiß ich ja, dass es nicht stimmt, aber Gesine ist doof. Und wie sie dann immer guckt, da werde ich wütend.“
„Stimmt das?“, fragte ich Clara.
„Ich hab nicht mit ihr gespielt.“
„Das tut eigentlich eh nichts zur Sache“, sagte ich kopfschüttelnd und fuhr fort, „weil … also hast du das überhaupt laut gesagt? Also im Kindergarten?“
„Weiß nicht.“