06.02.20

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es ehrlich gesagt selbst nicht mehr. Hier ging es auch ums Geld verdienen, neu Fuss fassen, und dir beim erwachsen werden zusehen.“ Jetzt lächelte sie und sah mich lange an. „Ich bin stolz auf dich, weißt du das?“
„Hmmm“, machte ich und Mutter verdrehte kopfschüttelnd die Augen.
„Altenheime unterscheiden sich nicht so sehr, weißt du? Die Häuser selber schon, aber die Bewohner darin ähneln einander mehr, als ich erwartet hätte.“
„Du meinst, die werden langsam wieder zur Ursuppe?“
„Ich würde es anders formulieren, aber im Prinzip ja.“ Mama lächelte. „Ehepartner werden einem im Alter immer ähnlicher, aber auch andere Lebensgemeinschaften tun das, und was ist ein Altersheim sonst?“
„Wenn man so darauf guckt wie du vielleicht. Du hast nie nur Patienten mit Zimmernummern gesehen, sondern die Geschichten dahinter.“
„Mag sein. Jedenfalls war mir damals so, als hätte ich selber Alzheimer, nur dass man das selbst gar nicht merkt. Das andere Haus, verstehst du? Aber die Einwohner ähnelten verdächtig denen, von denen ich mich doch gerade erst verabschiedet hatte. Als wären sie mit mir umgezogen. Minimal verändert vielleicht, Scheitel andersherum, die einen wirkten Jünger, andere grauer. Das war vorher schon bei manchen Neuzugängen so gewesen, wenn sie einen an Verstorbene erinnerten. Wie die Neubesetzung einer Rolle. Das waren dann aber alle auf einmal, und das hat etwas mit mir gemacht.“
„Du wusstest, dass du deiner Mutter nicht mehr begegnen wirst.“
„Ja. Der Gedanken war schlimm, bekam mit der Zeit aber etwas tröstendes. Gerade zu der Zeit als …“ Mutter stockte.
„Als was?“, bohrte ich nach. Sie sah mich an, und ich verstand. „Oh, als ich ins Schwesternwohnheim ging?“
„Als du bei mir ausgezogen bist.“
„Warum hast du denn nichts gesagt?“
„Eine Mutter, die sich an ihr Kind klammert? So wollte ich nie sein. Ich wollte, dass du zu mir kommst, wenn du mich brauchst.“
„Ich wäre auch gekommen, wenn du mich brauchst. Bin ich doch, oder?“
„Ja, aber eben weil ich nicht geklammert habe.“
„Kann es sein, dass wir verdammt gut darin sind es uns komplizierter zu machen, als es eigentlich ist?“
„Verlust und Loslassen ist nie einfach. Das wirst du schon auch noch lernen.“
„Dann sollte man etwas dagegen tun.“ Ich überlegte kurz. „Wenn du deine Mutter noch einmal sehen könntest, würdest du das wollen?“
Mutter dachte nach, und es tat mir schon leid die Frage überhaupt gestellt zu haben.
„Unbedingt, ja.“
Innerlich dachte ich, dass es umgekehrt bestimmt auch so war, behielt es aber für mich. Und dann dachte ich kurz an Doris und Nadja.
„Genug von uns.“ Mama schlug sich aufs Knie. „Was macht Mario? Erzähl!“
Jetzt erwischte sie mich auf dem linken Fuß. „Ach, nichts neues“, sagte ich noch schnell. „In Berlin ist alles beim Alten“, fügte ich überflüssig hinzu. „Und in Vilshofen auch“, hätte ich wirklich nicht sagen sollen, ist mir aber so rausgerutscht.
Mutter sah mich lange an. Dann seufzte sie und fragte, ob ich jetzt vielleicht gerne einen richtigen Kaffee hätte.
Autsch.

© Jens Prausnitz 2023

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