30. Dezember 2019 – Spätschicht

Sie sagte es genauso wie Daniel. Ob das ein Zufall war? Kann eigentlich nicht sein. Ich glaube, sie hat es nicht mal gemerkt. „Mit diesem Zug kam nicht mein Vater, sondern meine Zukunft. Da war noch etwas viel wichtigeres für mich in dem Zug: mein Mut weg zu gehen, mein Startschuss. Denn während die Minuten vergingen und sich immer mehr in die Länge zogen wurde mir klar, dass ich nie wieder warten würde: auf keinen Vater, auf keinen Mann, auf niemanden. Ich wäre auch alleine ins Erstaufnahmezentrum gegangen.“
Wir schwiegen eine Weile und reichten uns die Zigarette hin und her.
„Sag mal, hast du jemals das blaue Hemd von Daniel getragen?“ Nadja überlegte. „Ich glaub schon, wieso fragst du?“
„Ach, nur so“, grinste ich zufrieden, und so gerne hätte ich ihr einfach gesagt, dass ich sie liebe, dass ich sie immer schon geliebt habe, vom ersten Moment an, aber ich glaube sie wusste das auch so.
„Jetzt sag schon.“
Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich es in dem Moment, an jenem Abend gesagt hätte, wäre wahrscheinlich nichts passiert, aber ich verkniff es mir. Einmal habe ich im richtigen Moment die Klappe gehalten, als schon mehr als genug geredet worden war.
„Und?“, fragte sie. „Welche Uschi bin ich jetzt für dich?“
Ich verschluckte mich am Rauch und drückte die Zigarette aus. „Was?“
„Ach komm, der Herr weiß ganz genau wovon ich rede.“
„Hat Lukas…“
„Ja, hat er. Beim Versuch mir Schafkopfen beizubringen. ‘In jeder deutschen Muschi steckt nur eine Uschi.’ – Richtig?“
Ich nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Wir waren jung und brauchten die dummen Sprüche.“
„Glas… klar, du Obermeier. Johann Obermayr. Also?“
„Aufhören, hast ja recht, wir sind alle Schweine.“
„Und die Ober sticht den Unter.“ Sie schwang sich auf meinen Bauch. Ich wusste nicht wie mir geschah, und wenn es noch einen Restwiderstand in mir gegeben hätte, dann brach er in jenem Moment zusammen. Wir rauften miteinander wie Teenager, die sich sehr wohl in ihrer Haut fühlten, und eins führte zum anderen. Ober sticht Unter. Damit waren wir beide aus dem Schneider, weil sie im richtigen Moment die Sau gespielt hatte.

© Jens Prausnitz 2022

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