30. Dezember 2019 – Spätschicht

Nadja war auf dem Weg zu ihrem Zimmer gewesen, und hörte vor ihrer Tür stehend, wie im Nebenzimmer jemand Sex hatte. Sie brachte es nicht über sich in ihr Zimmer zu gehen, sondern kam zu mir. Mit einer Pulle Whiskey und zwei Gläsern aus der Hotelbar. Nadine, nicht Nadja. Vielleicht nicht sofort, aber sie wurde vor meinen Augen langsam wieder zu Nadine.
„Hast du neue Kontaktlinsen oder sowas?“
„Was? Nein, auch keine Brille mehr“, erklärte ich.
„Wie kommt’s?“, fragte sie.
„Das war kurz vor der Jahrtausendwende, wegen dem Jahr 2000 Bug, der Y2K Sache? Falls es danach tatsächlich keinen Strom mehr gibt. Ich wollte nicht in der Postapokalypse mit geklebtem Gestell und gesprungenem Glas herumlaufen, oder bei der Suche nach Kontaktlinsenflüssigkeit in einer Apotheke von Kannibalen verspeist werden. Also hab ich mir die Augen lasern lassen.“
„Nicht dein ernst!“
„Doch, und ich muss sagen, das war die bisher beste Nebenwirkung einer der vielen Weltuntergänge, die wir bisher überlebt haben.“
„Das hätte ich mich nicht getraut.“
„Es hätte ja auch schief gehen können.“
„Uns sind ja schon genug andere Dinge schief gegangen“, sagte sie.
Dann erzählte mir Nadine, wie sie damals auf der Zugfahrt zu Nadja geworden war, und dass sie es seitdem hasse Zug zu fahren, weil sie jedes Mal wieder daran denken müsse. Aber war sie nicht auch gerade mit dem Zug nach Darmstadt… ja, schon, aber dieses Mal wollte sie sich daran erinnern. Noch einmal wie Nadine vor der Zugfahrt sein, mit mir. Da wurde mir plötzlich sehr heiß.
Aber dahin gab es ja gar kein zurück mehr. Ihr Vater hatte Daniel angegriffen, der doch nur schützend vor ihr gestanden hatte, der sie in dem Moment besser verstanden hatte, als ihr Vater. Die Erkenntnis führte ihr andere Momente aus ihrem Leben vor Augen, in denen ihr Vater etwas ähnliches getan hatte, nur dass er sich da nie schützend vor sie stellte, sondern nur sich selbst zwischen sie und einen Jungen, der sich für sie interessierte – oder schlimmer, mit dem sie gerne gespielt hätte: Ingo im Kindergarten. Paul in der Grundschule. Maik im Urlaub. Die Liste war schon vor Daniel viel zu lang gewesen. So viele Momente in denen er sie für sich allein behalten wollte, um dann doch nie da zu sein, wenn sie ihn brauchte. Nie wieder. In Gießen stieg schon Nadja aus und ließ die niedlichen Buchstaben im Zug. Jedenfalls hatte sie das bis hierhin geglaubt. Aber so einfach war es eben nicht.
Denn Nadine’s Faszination für Sterne kam ja von ihrem Vater. Wie hätte sie nicht beides miteinander verknüpfen sollen? Sein Wissen verknüpfte die fernen kleinen Lichter miteinander, genauso wie sich in ihrem Kopf neue Verbindungen zwischen den Synapsen knüpften. Und je mehr sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto mehr sahen sie dort oben. Als ihr Papa dann immer später nach Hause kam, fand sie ihn eben allein zwischen den Sternen wieder und wieder.

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