Die Wehen kamen dann am dritten Januar und es kam kein Schrei, stattdessen wurden der Arzt und die Hebamme stumm, während Nadja noch hörbar atmete. Daniel sagte, er bekäme heute noch Gänsehaut, wenn er nur daran dachte. Es sei dunkler im Zimmer geworden, als ob sich eine Wolke vor die Sonne geschoben hätte, aber es schneite schon gefühlt den ganzen Tag bei klirrender Kälte. Dann wurde auch Nadja immer leiser, man legte ihr Valentin auf die Brust, und ließ die drei im Zimmer allein. Kann sein, dass davor noch etwas gesagt wurde, nur konnte sich Daniel an nichts mehr erinnern. Da war dieses kleine, zarte etwas, noch kein ganzes Kilo, aber alles dran. Ich hab Kinder, die so früh kamen in Inkubatoren gesehen, sie beim wachsen begleitet, bis sie langsam zu groß für die Kinderklinik wurden. So gerne hätte ich ihnen von denen erzählt, aber für Valentin kam jede Hilfe zu spät.
Niemand hatte Schuld an irgendwas, es sollte einfach nur nicht sein. Nadja musste sogar Milch abpumpen, damit sich ihre Brüste nicht entzündeten, und das ganze Drumherum machte den Verlust nur noch schlimmer. Unsensible Ärzte, der Wunsch das Kind begraben zu dürfen, und doch haben sie das alles zusammen durchgestanden und für sich und Valentin erstritten was sie wollten.
In der danach eintretenden Erschöpfung traf sie dann die zweite, die andere Stille: ihre eigene. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, wurden sogar noch stiller, leiser und einsilbiger, als wäre es ein Wettbewerb. Als müssten sie nur leise genug sein, um ihr Kind im Nebenzimmer atmen zu hören. Valentin war still gewesen, und jetzt waren sie es auch. Ihr Sternenkind lebte ein Phantomleben mit den beiden, tauchte in Streits mal zu Gunsten des einen, mal zu Gunsten der anderen auf, und so übten sie sich pantomimisch in ein Elterndasein hinein, das die Leerstelle nur noch größer machte. Er hatte einen Geburtstag. Wie langer er schon tot in ihrem Bauch gewesen war, wussten sie nicht, und auch diese Vorstellung machte ihnen im Nachhinein zu schaffen, wie jedes noch so unscheinbare Detail. Selbst wenn es nicht stimmte, beide fühlten sich schuldig, gaben abwechselnd ihren Körpern die Schuld, dem Wetter, den Ärzten, dem Erdmagnetfeld, dann einander oder wieder sich selbst.
Wir sprechen alle zu wenig über Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, die aber trotzdem geschehen. Darauf bereitet uns die Schule nicht vor, Fehlgeburten sind für viele nur eine statistische Größe, kein Wort fällt über den Schmerz der Eltern, die ein frisch eingerichtetes Kinderzimmer wieder ausräumen müssen, weil wir es genauso wenig ertragen könnten. Aber damit lassen wir diejenigen allein, die uns dann am meisten brauchen.
© Jens Prausnitz 2022