10. Dezember 2019 – Spätschicht

Nadja ging auch arbeiten, sie jobbte als Kellnerin und Kiosk- Verkäuferin, was immer sich gerade anbot. Am liebsten werkelte sie aber als Fahrlehrerin und Teilzeit-Automechanikerin an den Trabis von Wessis herum. Was in Vilshofen funktioniert hatte, war schließlich auch in West-Berlin gefragt. Trotzdem reichte es ihnen gerade nur zum Leben, auch weil sie viel zu selten gleichzeitig einen Job hatten. Es war mehr ein sich gerade so über Wasser halten, Wasser schlucken und Wasser treten, immer kurz vor dem Ertrinken. Das gab Daniel das Gefühl nicht gut genug zu sein, es kratzte an seinem ohnehin verzerrten Selbstbild, seiner Männlichkeit, das ganze dumme Gesabbel vom alten Speck im Ohr, der Mann als Ernährer, blablabla. Wenn es in Berlin nicht vor Leuten gewimmelt hätte, die sich bei weitem weniger anstrengten und trotzdem irgendwie über die Runden kamen, wäre es ihm sicher noch schwerer gefallen. Und wenn das Geld sehr knapp war, dann gingen sie halt beide Blut spenden.
Wenn sie von Berlin aus dieser Zeit erzählen, klingt das in meinen Ohren immer wie der blanke Horror, aber sie versicherten mir dann, dass es sich viel besser anfühlte, als es klang. Berlin pulsierte zu der Zeit mit Leben, und wenn man sich an das Chaos gewöhnte, dann lernte man darin zu schwimmen und ging manchen Dingen halt aus dem Weg: Techno, dem Tresor, der Loveparade – damit konnte Daniel nichts anfangen.
„Wie so’n Spießer“, hatte Daniel geklagt. „Du gehst zur Arbeit, die kommen gerade aus dem Club oder wechseln nur in einen anderen, was weiß ich. Berlin war so hipp, die wollten nur Spaß haben, sich austoben, während um uns herum alles schlimmer wurde. Und wenn du dann diese pillenfressenden Tänzer siehst, wo es keine Musiker mehr braucht, die ihre Instrumente beherrschen, dann platzt dir der Kragen.“
„Und es ist so viel besser, wenn du in einer Villa in Reinickendorf einem verwöhnten Bonzen-Schnösel Songs der Scherben beibringst?“, lästerte Nadja sarkastisch.
„Schön wär’s. Nicht mal die Toten Hosen oder Ärzte. Wenn ich noch einem das Riff von „Everything about you“ beibringen muss, dann drehe ich durch.“
„It’s your life…“, sang Nadja albern, und er stürzte sich kitzelnd auf sie.
Nadja machte ihr Abitur an der VHS nach, denn sie wollte unbedingt Raumfahrttechnik oder Astronomie studieren, irgendwas mit Sternen halt. Gerade als sie sich im ersten Semester eingeschrieben hatte, blieb ihre Periode aus.
Scheiße, ich sollte eigentlich ins Bett, ich bin völlig fertig vom heutigen Tag, aber irgendwie bin ich unruhig und würde eh kein Auge zu tun. Und diese eine Sache spukt mir schon seit einer ganzen Weile durch den Hinterkopf.
Denn worüber sie eigentlich nie redeten ist Valentin. Nur bevor er zur Welt kam, und jetzt erstmals seit die Zwillinge älter sind. Jetzt fällt es ihnen vielleicht nicht gerade leichter, aber sie versuchen es wenigstens. Valentin wäre der große Bruder von Clara und Dennis gewesen, im Frühling 1993 hätte er auf die Welt kommen sollen, aber dann kam er schon im Januar. Eine Totgeburt. Nein, das klingt falsch, ich sollte besser stille Geburt sagen, weil das trifft es besser. Es war auch die Stille, die ihnen blieb, die zwischen und mit ihnen wuchs.

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