01.01.20

Ein Synthesizer legte nebenan einen Teppich und das Wohnzimmer verwandelte sich umgehend in einen johlenden Hexenkessel. Ich erkannte das Lied nicht sofort, auch weil die Partygäste so laut und falsch jedes Wort mitsangen. Doch dann schnitt die glasklare Stimme von Jennifer Rush mit dem Refrain von „The power of love“ durch jede Faser meines Körpers, und Gänsehaut breitete sich über meinen ganzen Körper aus, wie es keine Tingles der Welt je könnten. Ich schloss kurz die Augen.
„Sieh mir in die Augen.“ Hörte ich den Muskelberg sagen, und ich tat wie mir geheißen war. Er betrachtete besorgt meine aufgestellten Haare auf dem Arm. „Hab keine Angst. In einer Viertelstunde ist alles wieder gut, und du kannst wieder in einen Spiegel sehen.“ Er legte mir seine Pranke auf die Schulter und stand mit einem leichten Keuchen, das nur ich hören konnte, wieder auf.
Während ich innerlich noch mit Jennifer haderte, kam mir ein letzter Geistesblitz. „Ich hatte nur den Eindruck die Schere sei etwas stumpf. Sieht man ja an mir. Wahrscheinlich unsachgemäße Benutzung meinerseits.“
„Ach so ist das?“ Diodato nickte, dann spannte er sich sein Hemd vom Bauch weg und schnitt es sich in einer flüssigen Bewegung unter dem Jubel der Anwesenden vom Nabel bis zum Hals auf. „Scharf genug für mich!“ Die Meute johlte vor Vergnügen, und Olga flüsterte mir ins Ohr, Thomas sei ein preisgekrönter Friseur, und ich solle ihn nicht weiter ärgern. Wie ärgern? Was habe ich denn getan? Aber ehe ich sie das fragen konnte, war sie schon wieder weg und gab den Blick auf seine die Brust bedeckende Tätowierung frei: Links ein Alien, Rechts ein Predator, die wie zum Sprung ansetzten, wenn er demonstrativ die Muskeln zucken ließ.
„Mama Mia“, wimmerte ich und schluckte den Wodka herunter. Der Eiswürfel in meinem Glas klapperte leise. „Ich glaub ich brauch noch einen.“
„Now we’re talking!“, rief Diodato und so nahm das „Schnippsal“ seinen Lauf.
Einige Partygäste versuchten mich zwischendurch mit Knabberkram zu füttern, aber das wurde unterbunden, weil „kauen geht jetzt gar nicht, da verrutscht die ganze Kopfhaut, nicht nur an den Schläfen! Picasso würde doch auch keiner das Papier bewegen, während er drauf zeichnet, ihr Banausen!“ Jennifer und ihr Chor sahen das ähnlich und auch Diodato stimmte mit ein, so text- wie trinkfest.
„Was ist mit Drinks?“, wollte jemand wissen, der nicht ich war.
Diodato überlegte kurz. „Das geht in Ordnung. Schlucken geht immer.“
Beim zweiten Refrain brach mein letzter Widerstand und ich ließ alles über mich ergehen, mit Tränen in den Augen. Tränen der Erleichterung. Kamm und Schere bewegten sich flink an meinem Kopf, mit einer Zärtlichkeit und Präzision, die in angenehmen Wellen kribbelte, dass ich die Augen schloß. Waren das etwa Tingles? Bei der Lautstärke? Der Lärm hüllte mich wie in einen Kokon, und die kühle Schere glitt sanft über meine Haut. Ich begann mich wirklich zu entspannen.

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