Aus dem Schwesternwohnhaus heraus verstand ich auch die Perspektive der Frauen besser denn je. Ich sah ja Männer um den Block schleichen wie Wölfe. Die hatten offensichtlich eine andere Vorstellung davon, was sich in einem Schwesternwohnheim abspielte. Mehr so Schulmädchenreport, oder was weiß ich, Ferienlager, aber nicht Medizin pauken und sich gegenseitig in Venen stechen. Zur Übung. Unsere Arme sahen zum Teil so aus wie die von Junkies an den Bahnhöfen, dabei hätten wir uns von denen wahrscheinlich so einiges abschauen können. Im ersten Jahr erkannte man sich an den blauen Flecken vom Handrücken bis zur Ellenbeuge.
Wenn ich Kippen holen war, lauerten wir manchmal welche von den Kerlen auf, die wollten ständig von irgendwem die Telefonnummer, und baten mich um Hilfe, beinahe so als wäre ich ein Zuhälter, der dort wie im Harem lebte. Ich riet ihnen dazu, sie doch einfach selbst zu fragen. Dabei wusste ich, dass ihnen selbst dann der Mut fehlen würde anzurufen, wenn ich ihnen eine erfundene Nummer gab, um Ruhe zu haben.
Das hat mich aber vielleicht dazu angestachelt, dann doch wenigstens selbst mit den Schwesternschülerinnen zu flirten. Sie haben mich ja sowieso auf alle Partys eingeladen, was sollte ich denn da sonst machen? Mich volllaufen lassen? Viele Männer trifft man da auch nicht, also genießt man halt ausnahmsweise im Mittelpunkt zu stehen, und eben nicht wie sonst immer Daniel, auf den alle flogen, oder Lukas, der so lustig war. Das musste ich erst lernen, und es machte Spaß. Ich kam richtig auf den Geschmack, aber mich auf ein Zimmer mitnehmen lassen, lehnte ich höflich ab. Als würde ich etwas gewinnen, wenn ich Jungfrau blieb.
Geheilt hat mich das eine Mal, dass ich eben doch Sex hatte. Und nicht irgendeins, sondern das berühmte erste Mal, und das war sogar noch so gerade eben im Schwesternwohnheim gewesen. Also mein echtes erstes Mal, die Couchfalte bei Sabine’s Eltern nicht mitgerechnet. Kennengelernt hatten Marie und ich uns auf einer der Partys, und wir fühlten uns zueinander hingezogen, kamen hervorragend miteinander klar und unterhielten uns prächtig. Für Außenstehende sahen wir wohl schon wie ein Paar aus, nur dass wir eben nicht ineinander verliebt waren. Marie war es dann irgendwann aber doch, jedenfalls glaube ich das. Auf jeden Fall war sie offen für mehr als unsere freundschaftliche Verbindung. Dagegen sträubte ich mich, denn für mich musste Liebe dabei sein. Weil ich dumm und unerfahren war, mich „aufsparte“, weil ich auf die Richtige warten wollte, wohlwissend, dass die bereits mit meinem besten Freund verheiratet war. Ich war ein Esel, weiter nichts.