04. Dezember 2019 – frei

Zum Unmut meiner Mutter habe ich dann aber dort die Schule endgültig abgebrochen, und direkt im Anschluss an meinen Zivildienst eine Ausbildung als Kinderkrankenpfleger begonnen. Mama hatte ich die ganze Zeit vertröstet, dass ich nach der Ausbildung ja immer noch studieren könne, das Abitur nachzuholen sei doch hier ein Klacks. Das hat sie auch getröstet, jedenfalls bis ich dann gleich den ersten Job annahm. Zwar habe ich eine Weile sogar tatsächlich damit geliebäugelt Kinderarzt zu werden, blieb dann aber doch lieber auf Station. Und ich habe es nie bereut.

Bei Daniel und Nadine lief es auch gut an. Von der Bundesaufnahmestelle hatten sie Überbrückungsgeld bekommen, außerdem etwas Taschengeld vom Roten Kreuz, und auch bei der Wohnungssuche war man ihnen behilflich gewesen. So war es auch bei uns in Vilshofen gewesen war. Die beiden landeten in Mönchengladbach, Daniel bei der Klaus Fischer GmbH, wobei ihm sein neuer Nachname womöglich Bonuspunkte gebracht haben dürfte, und Nadja als Kindergartenhilfe. Daniel gab sich als Metallhandwerker aus, was gar nicht so leicht war, obwohl er schon den zweiten Sommer in einer Halle gearbeitet hatte. Ein Empfehlungsschreiben vom Zeisler hätte ihm da nicht geholfen, und die Papiere bekam er nach einer Probezeit von den Ämtern.
Als er davor direkt auf dem Amt saß, um sich Papiere zu besorgen, hätte er sich beinah verplappert. Schon bei der ersten Frage stellte er sich dumm an, weil er auf die Frage „Wo haben sie denn ihre Lehre gemacht?“ gar nicht vorbereitet war. „In Hah… lle?“ klang mehr nach Gegenfrage, als überzeugend, und suchte lieber das Weite.
Mit etwas Nachhilfe von Nadine klappte es dann im nächsten Anlauf. Sie bequatschte einen neu eingestellten Arbeiter aus der DDR vor der Fabrik, man traf sich, und klärte die Einzelheiten. Angeblich habe Ulf drüben mit Daniel gearbeitet, und so bekam er tatsächlich eine Chance und stand bald darauf in der Fabrikha… Halle. Die Anlaufschwierigkeiten überwand er, weil ihm der „ehemalige Kollege“ half, bis Daniel sich allein zurecht fand. Und einen ersten neuen Freund hatten sie so auch gefunden.
Ulf war schnell klar geworden, dass Daniel’s Geschichte hinten wie vorne nicht stimmen konnte. Aber für einen Spitzel von der Stasi wusste er auch zu wenig von der DDR. Als sie ihm beichteten, dass Daniel seine Freiheit als Westdeutscher erst erlangte, als er sich als Ostdeutscher ausgab, muss er vor Lachen vom Stuhl gefallen sein.

Rückwirkend macht es mich echt fertig, wie knapp wir uns verpasst haben, denn nachdem wir Ostern 1990 nach Aachen zogen, wären wir uns wahrscheinlich irgendwann auf Konzerten über den Weg gelaufen, spätestens bei Rush 1992. Doch wegen der verkackten Wehrpflicht, die Daniel auch als Flüchtling einholte, kam es halt anders.

Lukas und ich wussten aber sowieso noch nichts von alledem.

© Jens Prausnitz 2022

Schreibe einen Kommentar

Schön, dass Sie kommentieren wollen, herzlich Willkommen! Vorher müssen Sie allerdings noch der Datenschutzerklärung zustimmen, sonst geht da nix. Danach speichert die Webseite Ihren Namen (muss gar nicht der sein, der in Ihrem Ausweis steht), Ihre E-Mail Adresse (egal ob echt oder erfunden), sowie Ihre IP-Adresse (egal ob echt oder verschleiert - ich hab keine Ahnung, ob Sie von Zuhause oder aus einem Internet-Café schreiben). Anders ist es mir nicht möglich zu gewährleisten, dass Sie hier kommentieren können, worüber ich mich sehr freue - denn es ist sehr frustrierend mit den mich sonst erreichenden, meist verwirrenden bis sinnfreien Werbebotschaften allein gelassen zu werden. Vielen Dank dafür, dass Sie da sind!

Noch ein kleiner Hinweis: Kommentieren Sie zum ersten Mal, erscheint Ihr Kommentar erst nach einer Prüfung des Inhalts, einzig um Spam von der Seite fern zu halten, in der Regel dauert das nicht länger als 24 Stunden - dabei handelt es sich nicht um Zensur, sondern um das limitierte Zeitfenster der berufstätigen Person hinter diesem Blog, die Ihnen den ganzen Krempel gratis zur Verfügung stellt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, und auf zur Checkbox.