24. Oktober 2019 – Nachtschicht

Wenn heute von westlichen, oder angeblich europäischen Werten schwadroniert wird, dann habe ich diese Wochen und Monate vor Augen, wo etwas riskiert und angepackt wurde, und keine Sonntagsreden im Sinn. Das Herz Europas schlug weder in Straßburg noch in Brüssel, sondern entlang der Donau, und zwar gegen den Strom. Wer heute Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt, hat vorher seinen moralischen Kompass dort im Wasser verloren. Wer gestern Europa umarmt hat, und heute nicht die Welt, hat nichts begriffen. Was sollen das denn für Werte sein, wenn man die Hilfsbedürftigen nicht mehr mit offenen Armen empfängt? Dann verdienen wir es nicht besser, als die Sintflut eines sich selbst reinigenden Planeten. Mit jeder Leiche, die im Mittelmeer versinkt steigt der Wasserpegel an unserem eigenen Hals. Ein Meeresspiegel, in dem wir uns selbst schon lange nicht mehr wiedererkennen.
Vielleicht würde es helfen, die Bilder von damals auszugraben, aber die, an die ich mich erinnere. Denn von dem, was damals an Videos und Interviews im Lager aufgenommen wurde, habe ich bis heute nichts gesehen. Aber ich weiß inzwischen von anderen, die damals jeden Tag auf die Abendnachrichten gewartet haben, dass da nichts von uns dabei war. Mich hat niemand entdeckt, als wäre ich niemals dort gewesen. Als Alibi war ich damals froh drum, aber heute hätte ich umgekehrt gerne einen Beweis. Als würde nur das stattfinden, was es auch ins Fernsehen schaffte. Nicht einmal Interviewschnipsel mit Uwe oder Jean-Michel waren drin, dabei habe ich sie täglich in Kameras und Mikrofonen sprechen sehen. Wo ist das alles abgeblieben?

Meine Hoffnung ist, dass sich die Gänsehaut, die ich bei der Erinnerung daran habe, so auch auf andere übertragen ließe. Oder vielleicht bin ich es nur leid, die immer gleichen Bilder von den Botschaften in Ungarn und Prag zu sehen, ganz selten ist immerhin was aus Warschau dabei. Immer nur die Trabis an den Grenzübergängen, aber nie die auf unserem Volksfestplatz. Wieso macht sich da niemand auf die Suche in den Archiven, ob es Perspektiven gibt, die rückwirkend betrachtet ebenso spannender sind, als uns nur wieder und wieder jener immer gleichen Bilder zu vergewissern, die wir längst kollektiv verinnerlicht haben?

Aber die Wahrheit ist wohl, dass ich eigentlich nur nach Nadine Ausschau halte. Ich möchte sie noch einmal sehen, wie sie damals war. Diesen ersten Stich ins Herz nochmal spüren. Meinetwegen nur unscharf auf einem Foto oder verwackelten Video, irgendwo im Hintergrund. Nur ein Schnipsel, ein Ausschnitt, irgendwas.

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