24. Oktober 2019 – Nachtschicht

Der Freitag war auch mein letzter aktiver Tag im Lager gewesen, denn ab Samstag wurden die Flüchtlinge anderswo untergebracht. Nicht länger in Zelten, sondern in festen Unterkünften und so, jedenfalls woanders. Unseres würde man zur Sicherheit noch stehen lassen, aber leer. Trotzdem weiter mit Grenzschützern drumherum. Ich würde die nächste Woche mit Lukas auf dem Weg zum Geistler daran vorbei laufen, man kannte sich vom Sehen, grüßte einander unbeholfen, und fragte sich, ob sie wohl einen Schießbefehl ausgeführt hätten. Auf wessen Seite standen die jetzt eigentlich? Man konnte gar nicht anders, als im Lager jetzt eine entvölkerte Miniatur-DDR zu sehen, aus der alles Leben gewichen war. Eine Voodoo-DDR, irgendwie unheimlich.

Die letzten Pressevertreter zog es weiter, jenen hinterher, die bereits gestern zu den neu entstandenen Lagern bei München oder anderswohin aufgebrochen waren. Vielleicht fuhren auch schon die ersten zur deutschen Botschaft in Prag, wo der Außenminister knapp zwei Wochen später seinen Satz nicht fertig sprechen konnte. An jenem Freitag zerbrachen wir uns sowieso noch unsere Köpfe darüber, wie wir Daniel aus seiner Familie heraus holen könnten, ehe er sich selbst etwas antat. Und wie zum Teufel sollten wir Nadine überhaupt je wiederfinden? Gottverdammt. Wohin hatte sie der Zug gebracht? Sie war für uns wie vom Erdboden verschluckt, und Daniel vom Fluss ausgespuckt.

Der nächste Schwung Flüchtlinge verabschiedeten sich von uns, und damit wurde immer klarer, dass wir hier allein zurück blieben. Auch Uwe würde bald gehen, bis es wieder in einem anderen Land Zelte aufzubauen galt. So schnell wie wir es errichtet hatten, waren wir jetzt als Helfer überflüssig geworden. Selbst die Lokalpresse verlor das Interesse, obwohl sich die leeren Zelte nicht vom Fleck rührten. Wo blieb denn der Wochenmarkt, oder die angekündigte Baustelle? Hatte ich etwa alles nur geträumt? Diese Leere war nicht auszuhalten. Viereinhalb Tage lang hatte hier ein gesamtdeutsches Herz geschlagen, mitten in Europa, jetzt wurde es transplantiert, und wir fühlten uns wieder so krank wie zuvor, aber mit der Erinnerung daran, wie es war, sich kräftig, lebendig und frei zu fühlen.

Ostdeutsche, Tschechen, Ungarn und Österreicher, jetzt sind sie alle Teil der Europäischen Union, aber damals waren sie es noch nicht. Haben sich unsere Mitbürger vielleicht sogar zuerst bei den Polen, Slovaken, Tschechen und Ungarn angesteckt, mit dem Widerstandsgeist? Dort gab es mehr Perestrojka und Glasnost als in Ost-Berlin, und Solidarność konnte man sogar im Westen richtig aussprechen. Also husteten sie Honecker was, dessen Nibelungentreue an eine gescheiterte Idee fast schon wieder etwas rührendes hatte. Real existierte der Sozialismus – wie in allen anderen Gesellschaftsformen ja auch -, nur für eine alle anderen nach Strich und Faden bescheissende Minderheit. Da kam ein kämpferisches Freiheitsverständnis zu uns herüber geschwappt, das wir so gar nicht kannten.

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