Was ich aber auch ohne Fotobeweis nicht vergessen kann ist, wie sie mich angesehen haben. Also unsere Flüchtlinge, oder auch Uwe, das THW, der BGS, die Gießener und alle, denen ich hier zum ersten Mal begegnet war, ja sogar die Pressevertreter. Die nahmen mich nämlich alle so an wie ich war. Sie beurteilten mich nicht anhand eines einzigen Ereignisses, das ich in Vilshofen an keiner Ecke wieder los wurde, als klebte es mir an der Stirn. Die Fremden beurteilten mich anhand von dem, was ich heute tat, und definierten mich nicht über einen Fehler, den ich längst bereut hatte. Im Lager hatte ich mich wohl gefühlt, und war endlich unsichtbar geworden. Das war ein Gefühl, nach dem ich mich gesehnt habe. Jetzt, wo sich das Lager leerte, wurde auch ich wieder sichtbar für die Vilshofener, und das ertrug ich einfach nicht mehr. Ich wusste, dass ich auch aus dieser Stadt heraus musste, und zwar bald, unweigerlich. Das konnte ich aber noch niemandem sagen. Das wäre zu viel für Daniel gewesen, nachdem er gerade schon Nadine verloren hatte. Und Lukas… ich wollte nicht an Lukas denken, sondern endlich mal an mich, und mich von Vilshofen befreien. Endgültig.
© Jens Prausnitz 2022