24. Oktober 2019 – Nachtschicht

Der Eulenspiegel war der Name unserer Schülerzeitung und außerdem unser Codewort, falls es ihm wirklich dreckig gehen sollte, und man unter einem Vorwand zu Hilfe kommen musste. Dann würde entweder Lukas oder ich so tun, als bräuchten wir Hilfe bei einem Artikel, weil Daniel war der beste von uns in Deutsch, deswegen schöpfte niemand Verdacht. Sein Vater sah mit Genugtuung, dass sein Sohn in etwas der Beste war, und seine Mutter erkannte den geborenen Lehrer in ihrem Sohn, oder auch nur die sichere Beamtenlaufbahn.
Aber Daniel ging nicht auf das Angebot ein. „Sonst haben wir nichts auf, also bis jetzt. Morgen kommt bestimmt noch was dazu. Bist du da noch am Bergerparkplatz oder im Außenlager?“
„Welches Außenlager? Tiefenbach?“, fragte ich verdutzt zurück. Was wollte er mir denn damit sagen? „Oder meinst du den Volksfestpla – -“
„Dann bis Montag“, sagte Daniel und legte ohne zu zögern auf. Ich werd mich nie daran gewöhnen.
Daniel wollte mir damit wirklich etwas zwischen den Zeilen sagen, und zwar dass ich herausfinden sollte, wo die Rothes hingefahren seien. Das erfassten wir aber gar nicht beim Roten Kreuz, wir verteilten nur die Nummer des Aufnahmeverfahrens, wiesen ihnen einen Zeltplatz zu oder schickten sie zur Dreifachturnhalle, und es gab etwas Taschengeld. Das weitere wurde dann in den Zelten 16 und 17 von den Kolleginnen aus Gießen geregelt, wo alle Informationen früher oder später zentral zusammen fließen würden. Wir füllten nur den Laufzettel mit aus und sammelten die Pässe ein. Außerdem hatte ich längst danach gefragt, und es war leider noch keine Adresse angegeben worden. Zelt F5 war schon wieder neu belegt.
Am Abend erzählte ich alles meiner Mutter, oder jedenfalls so weit ich kam, und sie war entsetzt.
„Das war alles gestern?“, fragte sie ungläubig.
Ich nickte. Die ausrückende Feuerwehr habe sie gehört, aber das tat sie immer, denn die war ja nur etwas über 100 Meter die Straße runter vom Altenheim entfernt. Die Alten hörten das meist gar nicht und fragten nur „Feuer wer?“
„Armer Daniel“, schloss Mama und fasste damit die Situation genauso zusammen, wie wir. „Und was ist aus dem Mädchen geworden?“
Ich schluckte gequält meine eigenen Gefühle hinunter und krallte dabei meine Fingernägel in die Ellbogen meiner übereinander gelegten Arme.
„Ach ja, ehe ich es vergesse: morgen ist der letzte Tag von Herrn Schneider, der geht in Rente.“
„Wer?“
„Unser Postbote, Herr Schneider?“
„Ach der, ja gut. Der macht doch noch einen fiten Eindruck? Ich schreib ihm ‘ne Karte.“
„Du bist ein Schatz.“ Mutter lächelte, und inzwischen glaube ich, dass es ihr gar nicht um Herrn Schneider ging, sondern dass sie mich auf einen anderen Gedanken bringen wollte. Dann seufzte sie. „Hoffentlich landet er nicht zu bald bei mir im Heim. Nach der Pensionierung geht es bei den meisten so verdammt schnell…“

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