09. Dezember 2019 – Frühschicht

Die Krönung der Geschichte war dann, dass er sich zum Entsetzen ihrer damaligen Berliner Bekanntschaft 1992 freiwillig zum Zivildienst meldete. Aber dazu trieb ihn nicht mehr die Angst, sondern Hunger. Es war unglaublich schwer geworden in Berlin und Umgebung noch Jobs zu finden. Die Ossis nahmen jeden Job an, und wenn er noch so mies bezahlt wurde, drängten dadurch unbeabsichtigt die Gastarbeiter aus immer mehr Berufen, und große Firmen lachten sich ins Fäustchen, weil sie keine Betriebsräte einrichten mussten. Alle wurden wir vom Kapitalismus über den Tisch gezogen und nackig gemacht.
Tja, hätte es damals nur schon Google und das Internet gegeben, hätten sich alle vorher informieren können. Erst nach der Wiedervereinigung, als das erste Jahr nach ihrer Flucht hinter ihnen lag und sie auch tatsächlich volljährig waren, tauschten wir über das Postfach in Plattling unsere Adressen aus. Jetzt bildeten wir ein Dreiländereck im Innland.

Eigentlich ist ganz Deutschland ein Land der Zuagroastn, nicht nur Bayern oder Berlin. Uns alle verschlägt es doch irgendwann woanders hin, in andere Bundesländer, Städte, na ja, und Lukas halt in einen anderen Stadtteil. War denn die Völkerwanderung was anderes gewesen? Erst rumlatschen, dann wo hängen bleiben, wegen nem Job oder so, Blasen an den Füßen oder nur kein Bock – und Zack, haste den Salat. Plötzlich seßhaft. Warum? Wahrscheinlich haben die Kinder gequengelt, ich kann nicht mehr, isses noch weit? Ich muss mal! Hunger! Ausgeträumt der Traum vom am Strand liegen, aber du, im Moor und Wald voller Wölfe sacht wer, da isses doch auch ganz schön. Wollen wir nicht hier.. Ja, ja, ja!
So war das wahrscheinlich. Und bei so einer Gelegenheit wird einer zum ersten Mal „surprise“ gerufen haben, und ein anderer „von wegen Überraschung, du Saupreiß“. Dann gewöhnt man sich an die Umgebung, aber die Demütigung vergisst man nie, und so werden alle, die nicht in dritter Generation von da wech kommen, eben Saupreißen.
Oha, ich glaub das zweite Bier ist mir zu Kopf gestiegen. Oder es liegt an dem Zeug, dass ich gerade auf den Kopfhörern habe. Ist ja ausnahmsweise kein ASMR, sondern etwas, was ich plötzlich in den Empfehlungen hatte. Wahrscheinlich weil ich was zu diesen komischen Mikrofonen wissen wollte, an denen Ohrmuscheln kleben. Dieses Zeug zieht mich echt immer tiefer in den Kaninchenbau. Über die binauralen Aufnahmetechniken und Mikrofone sollte ich mich mal mit Daniel unterhalten, aber so bin ich vorhin über „binaurale Beats“ gestolpert. Da bin ich als ehemaliger Schlagzeuger hellhörig geworden, un jetzt brummen mir die gerade durch das Hirn. Ein bisschen enttäuschend, das Ganze. Da geht’s irgendwie um Hirnwellen? Erst war ich beim Herzrhythmus und jetzt halt Hirnwellen. Irgendwie soll das gut sein, wenn man auf beiden Ohren nicht die gleiche Frequenz hört, sondern auf einem eine leicht verschobene. Das hört sich ähnlich an wie ein Brummen im Studio, das man eigentlich loswerden will, weil es die Aufnahme stört, wie bei einem nicht richtig eingesteckten Kabel. Total esoterisch das alles. Ich könnte mal probieren das parallel in zwei offenen Tabs abzuspielen, aber jetzt geh ich glaub ich erstmal kotzen.

© Jens Prausnitz 2022

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