Wo war ich? Kacke, ich wollte doch eigentlich noch was zum Talmüller los werden. Denn er hatte nie Kinder gehabt, also eigene. Nur Schüler. Vielleicht ist er deswegen Lehrer geworden, ich weiß es nicht. Daniel könnte es wissen, er hat ihn immer gemocht. Das ist noch untertrieben, er war sein Lieblingslehrer, und das beruhte wahrscheinlich sogar auf Gegenseitigkeit. Talmüller hatte zwar ein Herz für alle seine Schüler, aber Daniel hatte er geradezu adoptiert. Ihm war nicht entgangen, wie die Situation bei ihm zu Hause aussah. Woher die beidseitige Sympathie her rührte, kann ich nur raten, vielleicht sah er etwas von sich in ihm, es spielt letztendlich auch keine Rolle. Sie hatten einen besonderen Draht zueinander.
Jahre später darauf angesprochen, schüttelte Daniel den Kopf. „Talmüller hat mir einmal gesagt, dass er es bereut hat, nie selber Kinder gehabt zu haben. Der Satz klingt nicht nach viel, aber wenn du seine Augen dabei gesehen hättest – so viel gelebtes Leben, Freud und Leid, sicherlich, aber dann war da eben immer diese eine Sache, die man sich nicht zugetraut hat, oder gerade alleine lebte: Elternschaft.“
„Das ging mir auch so, im Zivildienst.“
„Ich erinnere mich, wie du davon erzählt hast, wen du alles hättest adoptieren wollen. Ging mir ähnlich.“ Daniel’s Blick wurde ernst. „Aber diese Traurigkeit, als er das sagte, die schrie förmlich ‘zu spät’, verstehst du? Das man manche Dinge tun muss, ohne schon dafür bereit zu sein. Du musst springen, ohne zu wissen wie und wo du landest.“
„So wie du in die Vils?“, meinte ich sarkastisch.
„Nein, so wie mit Nadja.“ Daniel holte tief Luft und atmete langsam aus. „Als sie meine Hand in ihre nahm, konnte ich alles andere loslassen. So frei war ich noch nie gewesen, und ich wusste, ich werde sie nie verlassen. Ich wusste es einfach.“
„Aber du hast sie doch verlassen.“
Er schüttelte den Kopf. „Nach außen mag das so gewirkt haben, aber nie im Herzen. Unsere Beziehung war immer wellenförmig, immer in Bewegung, auf und ab, nie festgebunden. Zur Miete statt Eigenheim, leichtes Gepäck, morgen woandershin gehen können. Mit so jemandem kannst du Pferde stehlen, auswandern, oder gut gelaunt um den Block laufen.“
„… und damit auch wieder aufeinander zu, selbst wenn sie schon ein paar Ecken weiter ist“, ergänzte ich.
Daniel nickte. „Ich wollte ihn trösten, stand aber nur dumm da, hielt seine Hand, die ich schon viel zu lang drückte, aber auch nicht mehr einfach loslassen konnte.“
„Scheiße.“
„Dann legte ich meine andere Hand noch oben drauf – du weißt schon, fast wie in dem Spiel, wo man immer seine Hand unten weg ziehen muss? Also ich packte die oben drauf und sagte was von wegen er hätte doch mit uns mehr Kinder gehabt, als man sich nur wünschen könnte.“
„Spitzenidee! Und dann?“
„Dann lächelte er, aber nicht so breit wie wir es gerne gesehen haben, sondern mehr wie um mich zu trösten? Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.“
„Ich kann mir das genau vorstellen.“
„Es war herzzerreißend. Und ich versprach ihm, dass ich nie etwas bereuen würde. Da hat er dann wirklich gegrinst.“
„Wann war das?“
„Im Frühjahr vor der Kollegstufe glaube ich. Auf jeden Fall bevor wir nach Berlin zum Kirchentag gefahren sind, da bin ich mir sicher. Der Tag war kühl gewesen, aber da stand mir wahrscheinlich Schweiß auf der Stirn.“
„Verdunstungskälte also?“
„Verdünnisierungskälte.“