25. Oktober 2019 – Nachtschicht

„Hast du dich eigentlich inzwischen schon gegen Grippe geimpft?“, wollte ich von Schwester Heide wissen. „Ich war vorletzte Woche.“
Sie schüttelte den Kopf. „Noch nicht dazu gekommen, und sicher nicht jetzt während der Nachtschicht, das ist mir zu riskant. Aber gleich wenn ich damit durch bin.“ Das klang vernünftig, hab ich ja genauso gemacht.
Mir blieb jedenfalls auch noch etwas Zeit, ehe ich eine Entscheidung treffen musste. Aber bei zwei freien Wochen, da könnte ich schon wohin fahren. Wär sicher günstig so fett in der Nebensaison von allem, im November. Nur Idee hab ich keine. Ich frag jetzt aber nicht Schwester Heide, wo sie an meiner Stelle hinfahren würde.

Im Dezember muss ich dann ja eh schon nach Vilshofen. Vorher sollte ich wirklich Energie getankt haben. Wie soll ich das denn anstellen? Skifahren will ich nicht, fern vom Trubel, und auch nicht mit dem Flieger ans Meer. Wäre schon schön, Strand und Sonne, aber die Flüge dauern mir zu lang, außerdem reden dann die Zwillinge monatelang nicht mehr mit mir.

Heide fragt, was das denn für ein Buch würde, an dem ich da schreibe.
„Ich schreibe doch gar kein Buch“, sagte ich irritiert, dann sah ich auf die dreistellige Seitenzahl im Programm und murmelte kleinlaut: „Glaube ich jedenfalls.“
„Es sieht aber so aus, als ob es dir gut tut, also lass dich nicht stören.“

Eine Ahnung davon, wie schlimm es wirklich um Daniel stand, bekam ich erst am Montag, als ich ihn sah und im ersten Moment nicht einmal wiedererkannte. Nur weil ihn sein Vater bis zur Tür begleitete, habe ich ein zweites Mal hin gesehen, so krumm und gebrochen war er. Daniel wirkte kleiner, zusammengeschrumpelt, mit eingesunkenen, stumpfen Augen, die Haare in einen strengen Zopf gezwungen. Das war wahrscheinlich der „gepflegte“ Kompromiss. Sonst trug er sie offen, und sie fielen ihm in Wellen über die Schultern. Ich machte eine Faust hinter dem Rücken, kniff Lippen und Arschbacken zusammen, und nickte dem alten Speck zu, der mich nicht einmal registrierte, als er seinen Sohn Goldhammer anvertraute. Eine Gefangenenübergabe wie im Film, und ich trottete geschockt hinterher.

Eins wurde mir in dem Moment immer klarer: das konnten wir unmöglich bis zum Ende des Schuljahres durchhalten. Obendrein war Goldhammer unser Kollegleiter, denn er und Talmüller wechselten einander im Zweijahresrhythmus ab. Es gab Schüler, die deswegen überlegt hatten, absichtlich sitzen zu bleiben, damit sie beim Talmüller landeten. Lukas zum Beispiel.

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