25. Oktober 2019 – Nachtschicht

Goldhammer unterrichtete Chemie und Erdkunde, war außerdem der stellvertretende Direktor und schlimmste Korinthenkacker südlich der Donau. Talmüller hingegen war Deutsch- und Geschichtslehrer, den nur noch wenige Jahre von der Pensionierung trennten. Dabei war er noch fit wie ein Turnschuh, weil er jede Distanz am liebsten mit dem Fahrrad überbrückte. Wenn die Klassenzimmer größer gewesen wären, hätte er noch freihändig im Kreis um uns herum fahren können, so lief er eben nur sich die Arme lockernd auf und ab.

Lukas war trotzdem nur mit Mühe davon abzubringen gewesen, nicht noch einmal sitzen zu bleiben. Uns zuliebe gab er sich einen Ruck, obwohl wir uns im letzten Halbjahr nicht mehr sicher gewesen waren, ob er nicht doch hinter unserem Rücken absichtlich schlechte Noten schrieb.

Was ihn wahrscheinlich am Ende überzeugt hat war, dass man im Unterricht trotzdem den einen wie den anderen haben konnte. Theoretisch jedenfalls. Wir hatten jetzt natürlich beide. In der Kollegstufe hing das natürlich in erster Linie von den gewählten Kursen ab, aber die Schule war mit ihren knapp 1000 Schülern einfach zu klein gewesen, um Goldhammer ganz aus dem Weg gehen zu können. Allein schon wegen der Krankheitsvertretung war es nahezu unmöglich, denn er war einfach nie krank, und deswegen immer auf einem der Würfel drauf. Man hätte glauben können, dass er dabei noch schummelte, um so auch ja den allerletzten Schüler im Auge behalten zu können. Was drüben den ganzen Stasi-Apparat brauchte, schaffte bei uns ein Goldhammer allein.

Lukas hatte versucht sich seine Kurse um ihn herum zurecht zu fummeln, aber dann hätte er zum Ausgleich mehr Sprachen machen müssen, und dann immer noch wenigstens in Mathe Abitur. Egal wie er es drehte und wendete, am Ende blieb Lukas in diesem Spiel der Verlierer. Dieses System war so ausgelegt, dass es nur Verlierer gab. Jedenfalls in Bayern, denn uns waren Legenden zu Ohren gekommen, dass es anderswo möglich sein sollte, so exotische Fächer wie Sport, Musik oder Kunst als Abitur-Hauptfach wählen zu können. Wir hatten nur die harten Brocken, also Sprachen und mindestens eine Naturwissenschaft dabei.

Bei Goldhammer hatten wir schon damit verloren, wie wir aussahen. Nämlich wie Versager. Mit unseren langen Haaren sahen wir aus wie Hippies, hörten weder Mozart noch Wagner, also eindeutig Versagermusik, und trugen nur notdürftig zusammengeflickte Versagerklamotten.

Dabei verdeckten die Aufnäher gar keine Löcher, wir bügelten sie absichtlich auf jene Stellen, die zu wenig abgenutzt aussahen. Ausgefranste Stellen trugen wir wie Auszeichnungen. Gut, die Schriften der Bandlogos waren selten auf ihre Lesbarkeit hin designt worden, aber eben genauso einzigartig wie jedes andere Firmenlogo auch. Wir übten uns also in so etwas wie Grafikdesign, ohne es zu wissen: wir kritzelten sie auswendig an die Ränder unserer Hefte und groß auf Ordnerrückseiten, jeder Bandname ein Statement. Wir sahen aus wie wandelnde Mixtapes. Für Eingeweihte waren wir dadurch so klar zu unterscheiden und einzuordnen, wie die Popper in ihre Lacoste und Benetton Klamotten und wie die Marken alle hießen. Im Prinzip so einzigartig wie Moleküle oder Aminosäuren. Schade, dass Goldhammer nicht einmal diese Analogie zu seinem eigenen Fachgebiet auffiel: Die gleichen Bandnamen in leicht veränderter Kombination und Reihenfolge machten uns nämlich zu anderen Menschen.

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