Rügen – Herbst 2019

Er war immer noch in Gmund am Tegernsee und schlug sich als Tagelöhner durch, genau wie Mutter gesagt hatte. Gefunden habe ich ihn mehr zufällig. Also wenn man es Zufall nennen kann, wenn man den ganzen Tag in einem sehr begrenzten Umkreis abwechselnd im Café sitzt, hinter einer Baumgruppe im Schatten steht, oder beim sich die Schuhe binden immer diese eine konkrete Haustür im Blick behält, anstatt einfach hinzugehen und zu klingeln. Da gingen schon Leute ein und aus, aber ich war mir nie ausreichend sicher, ob er es auch war. Ich addierte und subtrahierte Kilos, Kopfbedeckungen, kopierte meinen Vater aus den wenigen Fotos, die es von ihm gab in die Klamotten dieser Leute hinein, und wog dann ab. Vergeblich. Wenn er dabei gewesen war, erkannte ich ihn nicht wieder, und so war ich kurz davor gewesen das Experiment an dieser Stelle abzubrechen. Ein paar meiner freien Tage könnte ich ja noch woanders verbringen.
Aber dann habe ich ihn gleich am darauffolgenden Morgen sofort erkannt, als er aus dem Haus trat. Ich folgte ihm und der Kaffee in meinem Pappbecher wurde darüber kalt. In meinem Kopf ging ich all die Fragen durch, die ich ihm seit Jahren stellen wollte, änderte ihre Reihenfolge, stellte diese vor, jene zurück, und fing wieder von vorne an.
Sein Weg führte ihn zu einem Abenteuerspielplatz am Ostufer des Sees, wo er anfing eine Rutsche zu streichen. Ich sah ihm eine Weile aus der Ferne zu und beobachtete ihn. Er war sogar recht konzentriert bei der Sache, aber vielleicht eine Idee zu sorgfältig und langsam, als für meinen Geschmack überzeugend gewesen wäre. Verdammt, wie sollte ich es nur anstellen? „Hallo Papa, wann hast du in den letzten 15 Jahren an mich gedacht?“ Es gab einfach keinen richtigen Weg.
Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, während ich zwischen meinen Schuhen ein paar Kieselsteine herum schob, ging dann wie ein Spaziergänger über den Weg und setzte mich unauffällig auf eine Bank in seiner Nähe. Dort zündete ich mir eine Zigarette an, ein wenig nervös vielleicht, und versuchte mir die Sonnenbrille so auf die Nase zu schieben, dass sie mehr von meinem Gesicht verdeckte. Ich hatte noch nicht drei Mal an der Zigarette gezogen, da sprach er mich an. Genauer: er schnorrte mich an, und ich hielt ihm verkrampft die Schachtel hin. So aus der Nähe betrachtet bestand kein Zweifel mehr: er war es.
„Mit einer Frau verabredet?“
„Sieht man das?“, log ich krächzend.
Er lächelte wissend. „Bist so nervös. Da geht’s immer um Frauen.“
Ohne zu fragen setzte er sich neben mich auf die Bank, und für einen Augenblick glaubte ich er würde mich gleich umarmen, weil er mich erkannt hatte. Aber da war nichts in seinen Augen. Überhaupt nichts. Stattdessen streckte er die Beine aus und lehnte sich zurück.
Ich grinste gequält und wollte nur wieder weg, meinen Fragen hinterher, die sich in alle Winde zerstreut hatten.
„Kannst es kaum erwarten, was?“

Schreibe einen Kommentar

Schön, dass Sie kommentieren wollen, herzlich Willkommen! Vorher müssen Sie allerdings noch der Datenschutzerklärung zustimmen, sonst geht da nix. Danach speichert die Webseite Ihren Namen (muss gar nicht der sein, der in Ihrem Ausweis steht), Ihre E-Mail Adresse (egal ob echt oder erfunden), sowie Ihre IP-Adresse (egal ob echt oder verschleiert - ich hab keine Ahnung, ob Sie von Zuhause oder aus einem Internet-Café schreiben). Anders ist es mir nicht möglich zu gewährleisten, dass Sie hier kommentieren können, worüber ich mich sehr freue - denn es ist sehr frustrierend mit den mich sonst erreichenden, meist verwirrenden bis sinnfreien Werbebotschaften allein gelassen zu werden. Vielen Dank dafür, dass Sie da sind!

Noch ein kleiner Hinweis: Kommentieren Sie zum ersten Mal, erscheint Ihr Kommentar erst nach einer Prüfung des Inhalts, einzig um Spam von der Seite fern zu halten, in der Regel dauert das nicht länger als 24 Stunden - dabei handelt es sich nicht um Zensur, sondern um das limitierte Zeitfenster der berufstätigen Person hinter diesem Blog, die Ihnen den ganzen Krempel gratis zur Verfügung stellt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, und auf zur Checkbox.