09. Oktober 2019 – Nachtschicht

Wir wussten damals jedenfalls mehr über Frankreich. Auch in der Schule kam die DDR nicht vor. Für unsere damaligen Schulbücher war das noch nicht lang genug her. Mauerbau und Rosinenbomber, aber sonst? Hinter dem eisernen Vorhang wurde alles eins, eben die Sowjetunion, eine riesige rote Fläche. Wie beim Krieg der Welten, das rote Kraut der Marsianer, das schon ihren Planeten rot gefärbt hatte. Überall Kommunisten, sogar auf dem Mars! Les Gammas n’existent pas!

Mit der bloßen Möglichkeit, dass auch da drüben vereinzelt Gedanken frei blieben, hielten sich weder unsere Bücher noch unsere Lehrer auf. Als uns die Flüchtlinge dann plötzlich leibhaftig gegenüber standen, erschraken wir ob unserer eigenen Ignoranz und Vergesslichkeit. Wir waren uns selbst peinlich, aber immerhin ging einigen endlich ein Licht auf.

An jenem Abend bedankte sich Anton Rothe bei mir für den Beistand, den ich seiner Familie geleistet hätte. Er hatte zwei Bierflaschen dabei, die klassische bayrisch-braune Halbliter-Pulle und reichte mir eine.
„Ist zwar kein Sekt, aber zum Anstoßen reicht’s wohl, oder?“
Ich zuckte mit den Schultern, nahm die Flasche aber dankbar entgegen. Es war ein langer Tag gewesen, der mir doch mehr in den Knochen steckte, als ich wahr haben wollte.
Wir stießen an und nahmen beide einen tiefen Schluck, und ich muss wohl das Gesicht verzogen haben. „Zu warm? Das stand den ganzen Tag bei uns im Zelt, hat mir meine Frau erzählt. Schüler haben den hier reingeschleppt. Bier und… Schokolade. Ist das bei euch etwa… ein Ding?“
Ich schüttelte den Kopf und deutete auf das Etikett. „Wolferstetter. Das kann einem an der Straße Richtung Aldersbach einfach nicht schmecken.“
„Wie?“
Ich winkte ab. „Alles in Ordnung, ich hab den ganzen Tag zu wenig getrunken. Also jetzt nicht gerade Bier, so mehr überhaupt.“
„Geht mir genauso. Wollte einfach nur ankommen, und habe eben erst gemerkt, wie mir die Zunge am Gaumen klebt.“
„Und? Schmeckt’s?“
Anton Rothe schob anerkennend die Unterlippe vor und nickte einmal.
„Wirklich?“
„Ja, gut, kalt wäre es bestimmt besser. Ich bin aber eher der Pils Typ.“
„Besser als Sekt ist es allemal“, sagte ich und spürte, wie mir das Bier bereits zu Kopf stieg. „Ist noch was von der Schokolade da?“
„Ich fürchte nein.“ Rothe blinzelte irritiert.
„Jetzt wo ich was getrunken hab fällt mir auf, dass ich auch Hunger habe. Hätte mir besser mal bei der Essensausgabe vorhin auffallen sollen.“
„Ich wollte dich auch gar nicht so lange aufhalten, sondern nur Danke sagen.“
„Gern geschehen“, sagte ich.
„Danke für alles, was du für meine Familie getan hast.“
„Um Himmels Willen, das klingt ja jetzt fast so, als hätte ich sie vor dem Ertrinken aus der Donau ans Ufer gezerrt, und nicht nur beim Ausfüllen von Dokumenten geholfen.“
„Doch, doch, bis vorhin wusste ich nicht, ob ich sie je wiedersehe“, schluckte er leise. „Da bist du schon so nah am Ziel, und dann kommt so was dazwischen.“
„Da in Österreich?“
Er nickte.

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