09. Oktober 2019 – Nachtschicht

Und wieder heulte sich Nadine die Augen aus, nur diesmal nicht seinetwegen. Nicht direkt. Es war, als würde er Daniel und sie im Stich lassen, wenn sie ihn am dringendsten brauchte. Jedem Patienten widmete er mehr Zeit und Aufmerksamkeit, und es sollte doch alles anders werden, wenn sie erst drüben wären. Da wäre die Versorgung besser, die Arbeitsteilung und alles, nicht wie in der DDR. Dann würde er mehr Zeit haben, für sie, für Doris, ja vielleicht sogar für ein Hobby? Jetzt war er erst ein paar Stunden hier, und schon zeichnete sich ab, dass es wohl anders kommen würde, dass ihren alten Probleme ebenfalls die Flucht in den Westen gelungen war.
Ups, muss zur Arbeit. Schnell noch einen Apfel eingepackt und los.

Schwester Anita war ganz blaß und aufgelöst, ich wollte sie schon fragen, ob sie nicht lieber wieder nach Hause wolle, aber dann erzählte sie mir mit zittriger Stimme, dass in Halle jemand versucht hätte in einer Synagoge ein Blutbad anzurichten. Die Tür hat wohl gehalten, aber eine Passantin sei erschossen worden, und wohl noch jemand bei einem Dönerladen.
„Einzeltäter?“, fragte ich betäubt zwischen Hoffnung und Sarkasmus, meinen eigenen Schock herunter würgend, aber Schwester Anita nickte sofort. Ich wollte es so gerne glauben.

Ich blende aus, was sie mir gerade aus den Nachrichten an Einzelheiten erzählt. Glaube ich jedenfalls, denn ein paar Sachen schnappe ich doch auf. Eine Schießerei nördlich von Halle? Bomben auf einem Friedhof? Das kann doch alles nicht stimmen! Bitte. Die Polizei habe die Synagoge wohl gar nicht bewacht. Aber war heute nicht sogar Jom Kippur? Da bin mir ziemlich sicher. Aber ich muss mich jetzt auf die Arbeit konzentrieren, verdammt.
Meine Handgriffe sind ein bisschen zittrig, aller Routine zum Trotz. Warum nimmt mich das so mit? Ich will gerade nicht darüber nachdenken. Auch nicht darüber, wie sehr sich das alles schon wieder häuft. War doch Anfang der 90er genau so gewesen. Hat es seitdem überhaupt je richtig aufgehört? Erst diesen Sommer haben sie Walter Lübcke erschossen, und ich hatte das für einen Dammbruch gehalten. Einen Politiker erschossen! Von der CDU. Damit war doch eine rote Linie überschritten, wie in den 70ern bei der RAF? Aber die braune Linie verläuft offenbar woanders. Ich brauch jetzt eine Zigarette.

Nichtwissen ist so tückisch. Die Fragen sammeln sich nur wie hinter eine notdürftig verrammelten Tür, von der man weiß, dass sie den Zombies draußen nicht ewig standhalten wird. Wie die Tür in Halle. Verdammt. Man weiß doch jetzt eh noch nichts. Morgen dann. Später. Muss unbedingt auf andere Gedanken kommen, sofort, und kann nicht schon wieder eine rauchen.

Das wir auch rein gar nichts über die DDR wussten! Über diesen großen, blinden Fleck, unseren Nachbarstaat. Ist nicht auch Halle – – (seufz)

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