Bis zum nächsten Jahr scheiterte wieder eine handvoll anderer Mediziner an der Langeweile dieser Aufgabe, so dass man ihn mit Kusshand wieder zurück nahm. Für sein Bier bekam er sogar einen kleinen Kühlschrank, und er nahm seine Arbeit fast exakt wieder an der gleichen Stelle auf, wo er im Jahr zuvor aufgehört hatte. Da ging mir langsam ein Licht auf. Ein Leben in wenigen Pinselstrichen, klar und deutlich. Freiheit, die den eigenen Regeln gehorchte, und niemanden belästigte.
Drei Tage hatten Lukas und Daniel gefehlt, und der Abstand zum Rest der Klasse war bereits nahezu uneinholbar. Also für die anderen. Die Schüler hätten nur aufholen können, wenn sie jetzt geschlossen als Helfer zu uns übergelaufen wären. Aber da hätten wir sie ja zurück schicken müssen, weil es nicht mehr genug zu tun gab.
Andersherum gab es nicht viel mehr als ein paar Seiten aus Heften abzuschreiben, und erste Kapitel aus Büchern nachzulesen. Manche Unterrichtsfächer hatten ohnehin erst jetzt ihre erste Stunde, und weil obendrein jemand kurzfristig krank geworden war, konnten sich die beiden in dieser Freistunde ihre Bücher abholen.
Die offizielle Bücherausgabe hatten sie ja längst versäumt, aber darum konnten sie sich auch jetzt noch problemlos kümmern, denn Nachzügler gab es ja immer. Dann bekam man zwar nur noch die eher zerfledderten Restexemplare, aber Lukas zog die sowieso von Haus aus den gut gepflegten vor. Weil dort waren manchmal die tollsten Geschichten am Rand zu finden, behauptete er, obwohl die meistens davon am Ende eines Schuljahres von ihm selber stammten, und so wie sie dann aussahen, wurden sie eh ausgemustert und er durfte sie gegen eine geringe Gebühr behalten. Da er nie Geld hatte, lief es darauf hinaus, dass er dem Hausmeister einen Nachmittag half, und damit hatte es sich. Manchmal rettete er sogar noch ein paar zusätzliche Exemplare vor dem Müll, auch Doppelte und Bücher aus Jahrgängen, die er gar nicht besuchte. Wahrscheinlich hätte er sie sowieso zu Hause vergessen, oder noch wahrscheinlicher: nicht wiedergefunden.
Erstaunlich, wie sehr ich mich inzwischen daran gewöhnt habe hier meine Runden zu drehen, und zwischendurch zu schreiben. Einfach wieder da anknüpfen, wo ich gerade war. Ich könnte es auch andersherum sehen. Die Arbeit unterbricht meine Schreiberei. So ist es aber nicht, sonst hätten sich längst meine Kolleginnen beschwert. Vielmehr ist es so, dass mir auf meinen Runden die Erinnerungen nur so zufliegen. Als würde ich hier in die Vergangenheit zurück reisen, über die stiller werdenden Gänge zurück in die Vergangenheit, wo jedes Licht in den Zimmern nur gerade hell genug brennt, um nach dem Rechten zu sehen, ohne jemanden aufzuwecken. Ich horche dabei in mich hinein, und das Echo wird der nächste Absatz.
Mir ist fast so, als wäre ich in den letzten Wochen aufmerksamer geworden. Obwohl ich in Gedanken woanders bin, sind meine Wahrnehmungen im Hier und Jetzt geschärft. Jede Abweichung springt mir förmlich ins Auge. Ist der Goldhammer womöglich so ähnlich durch die leeren Gänge der Schule geschlichen, während drinnen unterrichtet wurde? Gruselige Vorstellung, aber ja, natürlich ist er das. Da war er in seinem Element. Nicht, wenn er selbst Chemie unterrichtete, sondern wenn er Abweichlern eine Lehre erteilen konnte. Wenn er Druck ausüben und bestrafen konnte, wenn er sich am längeren Hebel wusste… Zeit für meine nächste Runde.