Wieder mit Dr. Heßler Dienst. Ich habe ihn um ein neues Tape gebeten, und er wirkte ein bisschen müder als sonst. Inzwischen ist er ja auch in seinen Siebzigern, und könnte eigentlich längst in Pension sein, aber er mag nicht darüber nachdenken. Das erinnert mich verdächtig an meine Mutter. Mein Verdacht ist, dass er eben doch genauso den Kontakt zu Menschen vermisst, oder nicht ganz abreißen lassen möchte, obwohl er sich erfolgreich als Einzelgänger und Höhlenmensch ausgibt. Mit dem unregelmäßigen Schlafrhythmus hat er keine Probleme, da er ohnehin schläft wann und wo er müde wird.
In seiner Wohnung ist es so dunkel, dass man die Nacht nicht vom Tag unterscheiden kann, und er hat seine Nase entweder in einem Buch oder über der Schreibmaschine, und schläft regelmäßig über beidem ein. Ich schwöre, dass sich sein Kopfabdruck auf den verblassenden, abgewetzten Tasten der Schreibmaschine abzeichnet, wie die Umrisse des alten Mannes mit seinem Stock auf den Stufen in Hiroshima. Manche Explosionen sind nur so sehr verlangsamt, dass es 50 Jahre braucht, bevor sie für andere sichtbar werden.
Es ist ein bisschen so, als würden wir dank der Kassetten zu unseren Anfängen zurück kehren. Denn kennengelernt hab ich ihn in einem Krankenhaus-Archiv, als ich meinen Zivildienst leistete. Meine Station wurde renoviert und so lange verkleinert, da stand ich nur im Weg rum, daher ließ man mich im Keller Akten alphabetisch sortieren. Die wohl langweiligste Tätigkeit meines Lebens, die ich mit meinem Walkman zu überbrücken suchte. Dabei stieß ich eines Tages auf ihn, nachdem wir uns wohl schon einige Male verpasst hatten, bzw. ich ihn nicht gehört hatte. Dafür aber gerochen. Zwischen all dem Staub hatte ich manchmal den Eindruck, dass sich ein Hauch von Bier darunter mischen würde. Da befürchtete ich schon, ich hätte Epilepsie oder so, wie Leute die meinen angebratene Zwiebeln zu riechen, bevor sie einen Anfall haben. Eines Tages saß er dann einfach da wie ein Geist, eingekeilt zwischen Aktenstapeln, über einen Block mit karierten Seiten gebeugt, einem geöffneten Dosenbier vor sich, und einer Plastiktüte an der Stuhllehne baumelnd.
Auf die Frage, was er dort mache, erklärte er mir, Statistik. Eine Aufgabe, die kein Computer übernehmen könne, sondern von einem ausgebildeten Arzt gemacht werden müsse, und von diesen Akten gebe es eben noch keine digitalisierte Variante. Er war noch immer beim Buchstaben „K“, als meine Station längst renoviert, und der penetrante Geruch von frischer Farbe lange wieder verflogen war. Ich meinte, das würde ja Jahre dauern, bis er damit fertig sei, worauf er zufrieden grinste. Das schien für ihn keine Rolle zu spielen, und ich konnte mir das nicht erklären, wie man das aushielt. Wieso machte man etwas, das niemand freiwillig tun würde?
„Genau deswegen“, meinte er lapidar. Denn so hatte er seine Ruhe, und wenn er das drei Monate gemacht hatte, konnte er sich von dem Verdienst den Rest des Jahres frei nehmen, Platten hören, suchen und ersteigern, lesen, schreiben und gut Essen. Das war seine Vorstellung von „das Leben genießen“, und ich gebe zu, ich war ein bisschen neidisch.