Da wacht man mal gut erholt und guter Laune auf, und dann schreibe ich auf nüchternen Magen das schlimmste Kapitel auf. Irgendwann muss es halt sein, und ich will es hinter mich bringen. Ich mag nicht dran denken, die Vorstellung davon zerreißt mich, aber ich kann es mir nur vorstellen, weil ich nicht dabei war. Sonst wäre ich nur ähnlich paralysiert dagestanden, wie Lukas.
Lukas hat es mir minutiös erzählt, und egal wie oft ich es gehört habe, er wich nie davon ab, sondern erinnerte höchstens noch weitere Details, wer was anhatte und so. Für solche Sachen habe ich überhaupt kein Gedächtnis. Wenn mich jemand fragen würde, was ich gestern an hatte, dann müsste ich zum Wäschekorb gehen und spicken. In der Klinik ist es ja einfach, da trage ich jeden Tag die gleichen Kittel, von denen ich mehrere Sätze habe, die von Zauberhand gebügelt und gefaltet vor meinem Spind wieder auftauchen. Das färbt wohl auf Zuhause ab, nur leider nicht der Teil mit dem bügeln und zusammenlegen. Daher verzichte ich daheim auf beides.
Als sie am Bahnhof ankamen, stand dort schon der Geländewagen vom BGS auf dem Busparkplatz. Rothe wartete daran gelehnt, und Doris auf halben Weg zu den Gleisen noch immer bei den Koffern. Der Polizist auf dem Beifahrersitz sagte Lukas, er solle dicht hinter den Geländewagen parken, wunderte sich dann, weshalb er zunächst parallel daneben zum Halten kam, nur um dann rückwärts einzuparken, ließ ihn aber gewähren. Der Polizeiwagen, der ihnen gefolgt war, blockierte sie dann sicherheitshalber von hinten. Kaum dass der Motor abgestellt war, sprang Rothe schon an die Beifahrertür. In dem Moment war Lukas froh, dass dort zunächst der Polizist ausstieg, und sich vor ihm aufbaute, sonst wäre er wohl zu ihnen ins Auto gekommen.
„Jetzt gehen wir erstmal einen Schritt zurück und holen tief Luft, ja?“, sagte der Polizist ruhig und schob Rothe mit der flachen Hand auf dessen Brust sanft aber bestimmt drei Meter zurück, und der ließ es geschehen.
Dann kletterte zunächst Daniel an Nadine vorbei aus dem Auto und gab sein bestes. „Ihr könntet doch in Vilshofen bleiben?“ Daniel sah hilfesuchend zu Doris. „Nadine kann hier zur Schule gehen, und und…“, er wandte sich an Anton, der aber durch ihn hindurch starrte, als wäre er unsichtbar. „Im Krankenhaus nehmen sie bestimmt einen so guten Arzt, und und…“
Hinter Daniel stieg Nadine aus dem Trabi und Rothe folgte ihr mit seinem Röntgenblick, dem sie aber mühelos stand hielt. Auf der anderen Seite stieg Lukas vorsichtig aus, und war froh das Auto noch zwischen sich und der Szene zu haben, die ihm wie aus einem Film vorkam, unwirklich, irgendwie zu langsam, wie wenn man die gleiche Explosion mehrmals hintereinander, aber aus unterschiedlichen Winkeln gezeigt bekommt.
„Wir sind verheiratet“, sagte Nadine, und hielt ihrem Vater den beringten Finger vors Gesicht.
„Sehr witzig.“
„Wollen sie denn nun Anzeige erstatten?“, fragte der Polizist pflichtschuldig. „Da käme einiges zusammen, und allein der Papierkram – -“
Rothe schüttelte nur den Kopf. „Wir wollen nur noch weg von hier. Je eher desto besser.“