11. Oktober 2019 – Nachtschicht

„Ich komm runter!“, rief ich und wäre beinahe aus dem Fenster geklettert um Zeit zu sparen, nahm dann aber doch die Treppe, und auf dem Weg nach unten sogar Brille und Hose mit, um sie nicht mit meiner Morgenlatte zu begrüßen.
„Wie komme ich zum Gymnasium? Ich muss Daniel finden“, japste sie. Sie war den ganzen Weg gelaufen und etwas außer Atem.
Ich versuchte sie zu beruhigen. „Lukas holt ihn da raus und dann kommen sie zu dir.“
„Dafür ist keine Zeit mehr, mein Vater…“ Ihre Stimme versagte.
„Er will jetzt schon los?“
Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie fiel mir um den Hals. Ich hielt sie fest, spürte die Hitze ihres Körpers unter dem Pullover pulsieren, und zerkrümelte innerlich zu einem Häufchen Elend. Wie man seinem Traum gleichzeitig so nah und doch unendlich fern sein kann, ging mir nicht in den Kopf. Die Worte aus meinem Mund formulierten sich wie von selbst, und ich weiß bis heute nicht, woher sie kamen.
„Du gehst zur Schule, versteck dich dort beim Fahrradunterstand, bis du Lukas oder Monika auf dem Parkplatz entdeckst. Ich geh zum Lager und halte sie auf.“ Dabei trabte ich mit ihr im Schlepptau los, barfüßig an der Agip-Tankstelle vorbei, während sie sich ihre Tränen mit dem Ärmel abwischte. „Siehst du den Weg dort, auf der anderen Straßenseite an den Hochhäusern vorbei?“
„Hochhäuser?“
„Na gut, für hiesige Verhältnisse ist halt alles hoch, was mehr als zwei Stockwerke hat? Der Weg führt dich direkt zum Gymnasium, und der Fahrrad-Parkplatz ist rechts davor, bei der Parkbucht für die Busse – du kannst es unmöglich verfehlen.“
„Ich danke dir, Johann“, lächelte sie, und mein Herz schmolz dahin. Dann küsste sie mich auf die Wange und rannte über die Straße. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Bei unserer nächsten Begegnung war schon Nadja aus ihr geworden.

Ich musste jetzt direkt eine Rauchen gehen. Diese Erinnerung… es ist, als wäre es erst gestern gewesen. Ich hatte die Wohnungstür offen stehen lassen, war barfuß los, und wäre wahrscheinlich auch so weiter gelaufen, wenn nicht eine Gruppe kichernder Mädchen auf dem Weg zur Schule an mir vorbei gelaufen wäre. Sprintend überholte ich sie, machte eine Katzenwäsche, rief Mama ein „Morgen!“ in die Küche, wo sie sich gerade einen Kaffee kochte und was von Klopfen und dem Tag der offenen Tür redete, aber ich rief nur „Erzähl ich dir alles nachher!“ und war weg. Ich hätte ihr nicht ins Gesicht sehen können, ohne dass sie mein gebrochenes Herz bemerkt hätte. Und das hätte die Bruchstücke noch zu Staub zerrieben. Ich spürte aber, dass ich all meine Energie für einen mir noch unmittelbar bevorstehenden Kraftakt brauchte.

Infusion gewechselt, Blutdrücke abgelesen und Pulswerte eingetragen, niemand mit hohem Fieber. Routine, die für Sicherheit sorgt, genau wie ein ruhiges, gleichmäßiges Kinderatmen zwischen den durcheinander piepsenden Apparaten. Wie eine schlechte Imitation von Vogelgezwitscher im Wald.
Als ich im Lager ankam, nachdem Nadine zum Gymnasium aufgebrochen war, fühlte ich mich fast so, als wäre ich mit zur Schule gegangen, obwohl ich in die entgegen gesetzte Richtung gegangen war. Ein bisschen so, als hätte ich meine Hausaufgaben vergessen, oder mich nicht auf einen Test vorbereitet. Unterwegs hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen was ich denn sagen könnte, und war mit nichts zufrieden, sondern davon überzeugt, dass ich sofort auffliegen würde. Es hatte keinen Sinn. Ob ich es so versuchen sollte, wie wir es Lukas in den letzten Jahren eingetrichtert hatten? Immer ein Körnchen Wahrheit beimischen?

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