24. September 2019 – Nachtschicht

Als ich zu ihrem Zelt kam und die Plane zur Seite schlug, wusste ich noch nicht wer sie war, sondern sah nur am hinteren Ende eine Frau auf ihrer Pritsche sitzen, die schwer atmete, als würde sie weinen. Ich ging zu ihr um sie zu trösten, und erschrak, als mich die Familienähnlichkeit überspülte wie eine Welle, obwohl ich das doch vorher gewusst hatte. Sie sah mein besorgtes, verdutztes Gesicht und lachte.
„Geht es dir gut?“ Sie klopfte neben sich auf die Pritsche. „Setz dich.“

Ich kam ihrer Aufforderung nach, nahm mit wackligen Knien Platz und sagte: „Das gleiche wollte ich eigentlich Sie gerade fragen.“
„Doris“, stellte sie sich vor. „Ich heiße Doris, und du?“
„Johann. Ich… verzeihen Sie, ich meine du hast traurig ausgesehen, da dachte ich – -“
„Traurig?“, fragte Doris verdutzt.
„Ja, als würdest du nach Luft schnappen.“
„Tu ich ja auch, weil ich wegen diesem blöden BH keine mehr kriege.“ Sie griff sich mit beiden Händen hinten unter ihre Bluse und hängte ihn aus, wobei sie ihre Brust so vorstreckte, dass ich verlegen die Zeltwand ansah, während neben mir Gymnastikübungen ausgeführt wurden, die die Pritsche wippen und leise quietschen ließen, was alles nur noch viel schlimmer machte. Ich erwartete, dass man gleich ein lautes Plopp-Geräusch hören würde.
„Oh, das ist gleich viel besser“, atmete Doris erleichtert auf, und legte den erschöpften Büstenhalter über ihre Oberschenkel. „Du hilfst hier, oder?“
„Ja, hauptsächlich bei der Essensausgabe.“
„Ah, richtig, ich hab dich vorhin beim Mittagessen gesehen. War das ein Politiker?“
„Ja, Max Streibl, der bayrische Ministerpräsident. Der ist aber schon wieder weg.“
„Und die Kameras mit ihm?“
„Ja, die kommen aber nach der Pressekonferenz in Passau wieder zurück. Ich glaub, er hat ein bisschen mehr bekommen, als er erwartet hat.“
„Erbsensuppe.“
„Auch, aber ich dachte an … wie soll ich sagen… echte Anteilnahme? Etwas in der Art. Er dachte wohl es wäre ein Fototermin, wie jeder andere, aber hier passiert etwas anderes. Das kann man fühlen. Sogar er.“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Diese Aufbruchsstimmung, die man mit Händen greifen kann.“
„Ja und?“ Doris sah mich interessiert an.
„So ist das hier nie. Bis gestern war hier nie etwas los. Wir wussten zwar, dass ihr kommt, haben die ganze Zeit gewartet, aber … ich weiß es auch nicht. Vielleicht liegt es am Roten Kreuz? Irgendwie haben wir verhungernde, blutende Menschen erwartet, die knapp dem Tod entronnen sind, und dringend operiert werden müssen. Oder wenigstens geimpft. Eher wir in M.A.S.H. halt. Stattdessen kamen aber Busladungen mit vor Lebendigkeit sprudelnden, glücklichen Menschen an.“

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