Ich hab nochmal über den Albtraum von gestern nachgedacht. Also vorgestern, ach egal. Eigentlich habe ich mich in der Schule eingeschlossen, darin verbunkert, dabei sollte ich doch eigentlich eher dort heraus, oder nicht? Sich zu verschließen ist nicht so ideal. Vielleicht sollte ich mir Hilfe suchen – im Traum, meine ich, nicht im Wachen. Die richtige Tür aufsperren. Jetzt aber erstmal Kaffee.
Zum Glück ist diese Woche Schwester Heide auf Station, da gibt’s keinen Streß. Außerdem hat mein Lieblingsarzt Notdienst, Doktor Heßler, oder wie ich ihn nenne: Rolf. Er ist der einzige Arzt hier, zu dem ich auch privat Kontakt habe, also jenseits von Betriebsfeiern. Er sammelt alte Blues-Alben, auf Vinyl, fantastisches Zeug, von dem ich meistens noch nie vorher gehört hatte. Ich hab auch schon diverse Mixtapes von ihm bekommen. Ja, immer noch Kassetten. Und ich hör die total gerne, obwohl er nie Titel drauf schreibt. Seit 30 Jahren nicht, und dafür sind erstaunlich wenige Doppelte dabei, so weit ich das beurteilen kann. Trotzdem werde ich den ersten Song nie vergessen, und wie er mich weggeblasen hat. Jimi Hendrix erkannte ich zwar an seinem Gesang, aber den Song hatte ich vorher noch nie gehört: „Freedom“. Und den hat er wohl nur gewählt, um mir den Einstieg zu erleichtern, denn danach kannte und erkannte ich lange nichts mehr, während die Solos gleichzeitig mit weniger gespielten Noten immer länger wurden. Das forderte, überraschte und beglückte mich wie lange nichts, denn diese Musik eröffnete mir eine neue Welt. Und ich spürte, dass mich hier jemand an die Hand nahm, der sich darin auskannte, und langsam heran führte.
Die obskursten alten Platten hört er rauf und runter, während er an seinem einzigen Tisch sitzt, und mit einer mechanischen Schreibmaschine Seiten voll tippt, mit wer weiß was. Aktenordner voll, ungelogen Meter davon. Er hat mir mal was davon zum Lesen gegeben, weil ich ihn darum gebeten hab, nur verstanden habe ich nichts. Mal waren es philosophische Gedankengänge mit Querverweisen, denen ich nicht folgen konnte, weil ich die zugrundeliegenden Theorien oder Fachterminologie nicht kannte, mal medizinische Diagnostik anhand von Symptomen, wie aus einem Hörsaal zum Medizinstudium – und alles ohne Titel, einfach fließend ineinander übergehend, höchstens durch eine Leerzeile getrennt – wobei das auch einfach nur das Tagesende andeuten mochte, ich weiß es nicht. Das machte mir sogar ein bisschen Angst, als wäre er ein Psychopath, wie er den Filmen der 90er Jahre hätte entsprungen sein könnte. Ein netter, kleiner pummeliger Psychopath allerdings, der spartanischer lebte, als irgendjemand sonst, dem ich je begegnet bin. Umgeben von Bücherregalen und Platten, unter deren Gewicht sich die Bretter lächelnd bogen, eine Stereoanlage, ein Sessel mit einem aus gestapelten Büchern bestehendem Beistelltisch, der „Coffee-Table- Book“ völlig neu definierte; alles Bücher, die er nicht leiden konnte, und sich demzufolge nicht an etwaigen Dosenbierflecken darauf störte. Wahrscheinlich gibt es auf Japanisch ein eigenes Wort dafür, wie Tsundoku – nur dass es bei ihm von Haus aus gar keine ungelesenen Bücher gab; allerhöchstens nur einmal gelesene, und das war das Vernichtendste, was er ihnen seinen Meinung nach antun konnte. Ein Urteil über Bücher erlaubte er sich nur, wenn er sie von Einband zu Einband gelesen hatte. Dann gab es nur noch Stuhl und Tisch an dem er schrieb, Kühlschrank, Bett und Kleiderschrank. Kein Fernseher, kein Computer, kein Telefon.