„Na, das war’s wohl“, erklärte sie, warf einen Ostfriesennerz über Lukas, nahm ihm die Sachen vom Arm und aus der Hand, und ehe sich Lukas befreit hatte, war sie weg. Er sah sich um, und erhaschte noch einen Blick, wie sie das Pfarrhaus Richtung Lager passierte, und hastete ihr leicht benommen hinterher. Lukas war noch so verwirrt, dass er den Blick senkte, schnell weiterging und dabei fast über die eigenen Füße fiel. Nein, da war kein Erschrecken in ihrem Blick gewesen. Nicht der Hauch davon. Wie konnte das sein? Was zur Hölle war das? So nahe von kirchlichem Grund musste das ja ein Zeichen des Himmels sein, ein Engel vielleicht? Was wollte er nochmal hier?
Während Lukas so vor sich hin ins Lager stolperte, lief er auf jemanden auf, der sehr elegante Schuhe trug. Lukas stammelte „Entschuldigung“ und wollte weiter, da reichte ihm Max Streibl die Hand, schüttelte sie und sah lächelnd zur Seite, genau in die Richtung der Fotografen. Lukas sah nur noch Blitzlichter, und ehe er begriffen hatte was da gerade passiert war und die Lichtflecken auf seiner Netzhaut verblassten, war der Tross um den bayrischen Ministerpräsidenten auch schon weiter gezogen. Hatte der gerade „Herzlich Willkommen“ zu ihm gesagt?
Auch Daniel hatte eine Begegnung mit der Presse. Diesmal allerdings der eigenen, von einem Privatsender, ich hab vergessen welcher. Die fragten ihn, wo er herkam, und erwarteten als Antwort wohl Ungarn, und nicht „die Ortenburger“. Woher sollten sie nach knapp zwei Wochen vor Ort auch wissen, dass die Straße hinter der Häuserreihe auf der anderen Seite des Bergerparkplatzes so heißt?
„Ach so, Österreich, ja, ha ha. Und wie ist es hier im Westen?“ „Bisschen mehr los als gestern, aber sonst…“
„Keine Angst mehr vor der Bespitzelung?“
„Na ja, das fühlt sich wie ein Verhör an, und um ehrlich zu sein stehen sie mir gerade im Weg.“
„Ein bisschen Dankbarkeit können wir schon erwarten, oder?“ „Was? Wieso – -“
„Die Bereitschaft sie alle aufzunehmen. Das ist nicht umsonst.“
„Ich würd ja gern von hier weg, aber man lässt mich ja nicht.“
„Der Papierkram dauert eben ein bisschen.“
„Ein bisschen? Zwei Jahre nennen sie ein bisschen?“
„Übertreiben wir mal nicht. Wo soll es denn dann hingehen?“
„Weiß ich noch nicht, Hauptsache weg von hier.“
„Wie, auch aus Westdeutschland, oder nur Bayern?“
Daniel nickte. „Freiheit und so.“
„Ach Reisen, ja.“
„Nein, ich meinte schon ins Ausland gehen, mal woanders leben, als in diesem Kaff.“
Das war wohl der Moment, als bei dem Reporter der Groschen fiel, die Arme hängen ließ und die Aufzeichnung abbrach. „Der ist von hier.“
„Ich? Ja, was – -“
Der Reporter machte seinem Ärger ein bisschen Luft. „Solltest du nicht in der Schule sein?“
Daniel zuckte mit den Schultern. „Da ist heut’ eh noch nix los.“ „Dann geh halt nach drüben, wenn es dir hier nicht paßt!“
Und weg waren sie. Wegen seiner langen Haare hatten sie ihn wenig überraschend für einen Flüchtling gehalten.
Die ausländischen Journalisten mochten wir alle sehr viel mehr, wahrscheinlich weil es denen am Ende egal war, woher wir kamen, ob aus West oder Ost. Für die waren wir schon alle Deutsche, immer gewesen. Die nahmen eine Einigkeit war, die es gar nicht gab, und bis heute nicht gibt. Also abgesehen von diesen wenigen Tagen.
© Jens Prausnitz 2022