14. Oktober 2019

Wir gingen in die Elia Bäckerei, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie gut die dort sind, denn ich kenne gar kein jüdisches Restaurant oder Café in Aachen. Wenn das so ähnlich ist, wie mit Laugengebäck außerhalb Bayerns, dann gute Nacht. Aber ich fand die lecker, bis mich Heßler darauf hin wies, dass das Versöhnungsfest eigentlich ein Fastentag sei. Da wurde es mir zu einem Kloß im Hals.

Danach redeten wir noch ein bisschen über Musik und er fragte mich, ob ich immer noch am Schreiben sei. Die Antwort muss ihm gefallen haben, denn sein Lächeln straffte ihm die Stirnfalten glatt. So geliftet sah er zwanzig Jahre jünger aus, genau wie damals, als wir uns kennengelernt hatten. Unsere Gesprächsthemen sind ja auch noch die Gleichen, wie vor 20 Jahren: Nazis, Musik, und das Schreiben.

Ich hab inzwischen aufgehört mich zu fragen, wie es wohl wäre, wenn Nadine’s Vater plötzlich vor mir stünde. Er war ja Arzt, oder vielleicht inzwischen wieder, um genau zu sein. Ich hätte es ja als gerecht empfunden, wenn man ihm die Doktorwürde nach seinem Verhalten am Bahnhof entzogen hätte, aber stattdessen wurde nur einfach seine Ausbildung in der DDR nicht anerkannt. Nadine hatte es uns erzählt, nachdem das alles vorbei, und sie endlich mit Daniel zusammen war. Wie hieß das noch, Diplom-Mediziner? Eine gleichwertige Ausbildung halt, die man drüben beim Militär machen konnte. Er sollte nochmal ein Examen ablegen, wenn er hier als Arzt arbeiten wollte. Irgendwas in der Art. Und Doris hatte bestimmt auch ihre eigenen bürokratischen Hürden zu nehmen, um wieder als Grundschullehrerin arbeiten zu können. Im Vergleich dazu erschien ihnen die Flucht rückwirkend wahrscheinlich beinahe als einfach. Die BRD erstickte sie jetzt in Papierkram und Stempeln, wie sie es ja auch mit uns machte, bis jeder weitere Fluchtreflex unterbunden war.

Da sie aber dringend Geld brauchten, fing er eben an als Sanitäter zu arbeiten, weil das wohl ging. Zum Glück, denn sonst wären sie wahrscheinlich nicht lange genug in Gießen geblieben, um Nadine und Daniel einander wiederfinden zu lassen. Also war auch das wieder so ein Zufall oder schicksalhafte Wendung, ohne die alles ganz anders gekommen wäre, ich mag es mir gar nicht ausmalen.

Als dann die Mauer fiel, kamen zu den Zweifeln sicher noch Wut und wahrscheinlich auch Gewissensbisse hinzu. Wäre es doch besser gewesen zu bleiben? Sollten ihre Freunde etwa Recht behalten haben? Die DDR von Innen heraus zu verändern, anstatt einfach zu gehen? Nicht den Symptomen entfliehen, sondern die Ursachen bekämpfen? Stattdessen saß er zurückgestuft in der Notaufnahme fest, und dann verschwand auch noch seine Tochter. Geschah ihm ganz recht.

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