„Nix wos er ned scho kennt“, sagte Lukas.
„Mach dir keine Sorgen“, fuhr ich fort. „Daniel weiß am besten damit umzugehen.“
„Kann man da nicht wirklich die Polizei rufen?“
„Der sind die Hände gebunden, und dem Jugendamt auch. Es sind ja seine Eltern. Das läuft leider alles als noch unter ‚in den geltenden Erziehungsrahmen fallend‘. Meine Mutter hat es mal versucht… und dann war Daniel eine Woche lang nicht in der Schule. Wegen einer ‚Magen-Darm-Grippe‘ hieß es.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten. „Die Flecken waren danach nur noch gelb, angeblich vom Fussball spielen.“
„Aber Daniel spuilt nur Gitarre“, stellte Lukas fest.
Inzwischen weiß ich aus bald drei Jahrzehnten Berufserfahrung, dass der schmierige Speck noch nicht einmal die Spitze des Eisbergs darstellte. Dennoch schockt es mich heute noch genauso wie damals bei Daniel. Jeder einzelne Fall lässt mein Blut kochen. Wir alle haben heimlich genauso die Tage bis zu Daniels 18 Geburtstag gezählt, wie er selbst. Und der lag immer noch Monate entfernt. Wie er danach die Schule zu Ende bringen würde, stand noch auf einem anderen Blatt, aber die Volljährigkeit markierte für ihn so viel mehr als einen Führerschein, wie bei den meisten anderen, sondern dass er sich endlich rechtlich zur Wehr setzen könnte. Eine Verletzung der elterlichen Sorgfaltspflicht war bei Daniel durch das Jugendamt nicht nachweisbar: er war gesund, wohlgenährt, ging zur Schule und alles.
Ein blauer Fleck hier und da reichte noch nicht, und es waren die Worte, die ihm mehr weh taten, die gesprochenen sowieso, aber die unausgesprochenen am allermeisten. Das Schweigen seiner Mutter, das fehlende Vertrauen in ihn, und alles andere, was damit zusammen hing. Alles eben.
„Daniel lebt in der Hölle“, sagte ich leise. „Und kann nirgendwohin fliehen.“
„Ned amoi in am Flichtlingslaga“, ergänzte Lukas bitter.
„Und die Schule?“, wollte Doris wissen.
„Was soll damit sein? Es fehlen noch zwei Jahre bis zum Abitur.“ „Ich meinte die Lehrer, kann da niemand – -“
„Bei uns? Die ordnen doch selber alles dem Abi unter. Danach kann
man dann ja machen, was man will. Vorher hat alles andere zu warten.“
„Und dann is nur’d Schui mit einem fertig“, sagte Lukas. „Danach hoit die der Bund, d’ Uni, der Job – es geht ewig so weida.“
„Willkommen in der Freiheit“, scherzte ich, und dazu spielten die New Orleans City Stompers ganz unironisch „my bucket’s got a hole in it“.
„Freiheit beginnt im Kopf“, sagte Herr Rothe.
„Und da herds a wieda auf.“
„Du, Lukas“, begann ich. „Kannst du morgen zur Schule?“
„Ja scho, aber i mog ned.“
„Nein, wegen Daniel. Kannst du – -“
„Ah so, ja freili“, seufzte er.
Ich richtete mich an die Rothes. „Machen sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns um ihn.“
Das klang weit weniger hoffnungsvoll, als es sollte, aber die Familie nahm es dankbar an um ihre Zusammenführung emotional abzuschließen. Eine Sorge nach der anderen. Was sollte man auch sonst machen? Sie gingen zu den Zelten, und ich ließ mir von Lukas die bemalte Monika zeigen. Im Dunkeln sahen alle Farben nur noch grau aus. Von der Motorhaube grinste mir der Totenschädel unter seiner Narrenkappe entgegen, und mir war das Lachen vergangen. Da half auch kein Dixieland mehr.
© Jens Prausnitz 2022