Genauso wenig wie die neuen Wetterkarte in den Nachrichten. Denn dort war die Wiedervereinigung bereits vollzogen. Deutschland in den Grenzen von 1990. Die Wetterkarte hatte jetzt wieder Grenzen, so dass sie an den Geschichtsunterricht erinnerte. Eben war Deutschland noch in einem Europa aufgelöst gewesen, jetzt war die krumme BRD-Banane schwanger, vermutlich mit den Grenzen von 1939. Genau wie es Brecht vorhergesagt hatte, und mir war tatsächlich zum Kotzen zumute.
Zuvor waren dort nur Hs und Ts mit ihren krummen Kringeln über Europa unterwegs gewesen, jetzt war da plötzlich ein hochschwangeres Deutschland, dessen Bauch mir Angst einjagte. Nicht, weil ich mich vor Rechten im Osten fürchtete – Rostock- Lichtenhagen war noch etwas entfernt, und diejenigen von drüben, denen ich bisher begegnet war, gaben mir auch nicht den geringsten Anlass dazu. Auch die sich regenden, leidenschaftlichen Bürgerrechtsbewegungen nicht, sondern ausgerechnet das ARD Studio der Tagesschau in Hamburg, oder wo auch immer sie sich das ausgedacht hatten. Diese verdammte Idee kam aus dem Westen, zum Sex gehören zwei. Man kann es jetzt nicht dem Osten vorwerfen, wenn sie ungeschützt auf jene Köppe trafen, denen im Westen niemand mehr Gehör schenkte, wenn sie so Rückenwind bekamen.
Erst mehr versehentlich „ein Volk“ skandieren, dann die vorschnell wiedervereinigte Wetterkarte – es war wie einem Zug bei der Entgleisung zuzusehen, in dem man selber sitzt. Brachte es da noch etwas die Notbremse zu ziehen?
Mit Lukas wagte ich mich auf die Ostseite der Stadt und wir kauften todesmutig Ost-Kippen. Die waren billiger als im Westen, und genauso ungesund wie lecker. Lukas qualmte sich auf Cabinet oder Karo ein – welche waren nochmal die ohne Filter gewesen? Ich blieb gleich an den F6 hängen, als wären sie die logische Fortsetzung meiner Obsession mit Zelt Nummer F5. Kam ja hin. Als uns dann vom vielen quarzen schwummrig wurde, hatten wir Lust auf Döner und Falafel, als Ausgleich für die ungesunde Lungengymnastik. Nur gab’s die im Ostteil der Stadt noch nicht flächendeckend. Wir hielten mit Monika am Alexanderplatz, weil wir uns dort aus irgendeinem Grund sicherer fühlten. Mehr Fluchtmöglichkeiten vor… keine Ahnung, das wussten wir auch nicht so genau. Dort kauften wir uns eine Grilletta, und setzten uns damit auf die Stufen einer Treppe, mit Blick auf den Fernsehturm.
Ein paar Meter neben uns saßen zwei Jungs in unserem Alter, irgendwas zwischen Punks und Grufties, oder Wavern aber mit Springerstiefeln. Einer von ihnen sprach uns nach einer Weile an. „Seid ihr Bundis?“
Wir nickten verlegen. Ertappt.
„Woher hobd’s des gwusst?“, fragte Lukas, und ich verschluckte mich fast an meiner Frikadelle, denn ich hätte eigentlich auf unsere Turnschuhe getippt.
Sie zuckten dankbarer Weise nur mit den Schultern. „Hättet ihr vielleicht eine Zigarette für uns?“
Ja, hatten wir. Die beiden waren zwar etwas enttäuscht, dass wir ihnen nur Ost-Zigaretten anbieten konnten, aber gemessen an unserem Erscheinungsbild war das nun wirklich nicht gerade überraschend.