Dafür hatte ich schon immer ein Talent zum Schweigen. Und Zuhören. Das sind zwei verschiedene Dinge, die sich zwar äußerlich ähneln, aber grundverschieden sind. Das eine richtet sich nur nach außen, das andere nach Innen und Außen gleichermaßen. Außerdem kann ich mir Dinge gut merken. Und aufschreiben.
Schreiben macht sogar süchtig. Es macht mir Spaß, und mich anscheinend sogar ruhiger. Ich fühle mich besser, und das bilde ich mir nicht nur ein. Sogar Tina war von mir beeindruckt, ich hätte so anders, so viel reifer auf sie gewirkt als noch im Sommer.
Aber während der Nachschichten konnte ich mich besser darauf konzentrieren als jetzt tagsüber. Jetzt fehlt mir sogar das Summen der Getränkeautomaten gegenüber der Notaufnahme. Wie schön das eigentlich ist. Hat beinahe ASMR Qualitäten. Am Tag gibt es so viel Gerede auf Station, das mir darüber die Konzentration flöten geht. Wenn ich dann wie jetzt frei habe, kann ich das nicht alles nachholen, gutes Gedächtnis hin oder her. Wenn ich vor oder nach den Tagschichten was aufschreiben will, ist mir immer so, als würde ich die Hälfte vergessen.
Prompt ist auch die Versuchung groß stattdessen wieder nur ein Buch zu lesen, oder einen Film zu gucken, laut Musik zu hören. Bei Tageslicht bereitet es mir nicht halb so viel Freude die Tasten klackern zu hören. Nicht einmal dann, wenn ich meine eigenen Schreibaussetzer mit ASMR-Keyboard-Videos überbrücke, wo Asiaten auf teuer blinkenden Tastaturen Kauderwelsch tippen. Das ist ein magisches Geräusch, das mich zuverlässig runter bringt, selbst wenn mein eigener Bildschirm leer bleibt.
Ob das erste Anzeichen meiner schleichenden Heßlerisierung sind? Werde ich zum Einsiedler, der anstelle von Aktenordner eben Memory- Sticks voll schreibt? Moment, das sagt doch keiner mehr, wie heißen die Dinger gleich wieder? USB-Stick oder was mit SD, und was ist eigentlich aus der Datasette geworden?
Wer weiß, vielleicht ist auch das nur eine Phase, das merkt man ja eh erst hinterher, wenn sie vorbei ist. Auch die Schreiberei wird wieder gehen und durch etwas anderes ersetzt werden, und vielleicht kommt es irgendwann wieder, wenn ich eine ganze Runde gedreht habe. Ist ja jetzt auch das zweite Mal, es hat nur eben sehr lange gedauert. Hat Nadine (oder Nadja) nicht was in der Richtung gesagt, das Pluto noch immer nicht einmal um die Sonne herum ist? Manche brauchen halt etwas länger, und schreiben kann ich wie ich jetzt merke sogar bei Tageslicht, wenn auch nicht ganz so gut wie bei Nacht. Und in der Dämmerung verbietet es sich zu schreiben, die muss man erleben.
Natürlich gibt es noch eine Inspiration für mich zu schreiben. Neil Peart. Nicht nur seiner genialen Texte für Rush wegen, sondern auch seine Bücher. Vor allem „Ghost Rider“ ist ihm ja zur Therapie geworden, nur hat er es veröffentlicht, anstatt feierlich zu verbrennen, wie so ein anderer Dummkopf.
Den Sommer fuhren Lukas und ich mit Monika nach Berlin, wie ich es ihm versprochen hatte. Die Fussball-WM interessierte uns nicht, schon eher die Reste der Mauer. Daniel und ich hatten sie fast exakt ein Jahr zuvor auf dem evangelischen Kirchentag noch intakt gesehen. Ihr jetzt wieder zu begegnen, so löchrig und respektlos mit Hämmern bearbeitet, das war im Kopf kaum zu begreifen. Auch Lukas stürmte einfach los und klöppelte sich selber Brocken aus der Mauer, während ich versuchte die Bilder in meinem Kopf zur Deckung zu bringen. War ich hier nicht vor einem Jahr gestanden? Oder habe ich mir das eingebildet? Was hier vor mir bröckelte, war auch meine Realität, und ich wusste das nicht einzuordnen.