Abzuhauen erschien uns da als die vernünftigere Alternative. Auf die Idee, dass wir selber ja auch abhauen könnten, kamen wir nicht einmal mehr. Vielleicht weil wir immer nur zu hören gekriegt haben: „Dann geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht passt.“ Das einzig andere, was uns optisch zugetraut wurde, war von der Springer Presse als Sozialhilfeempfänger auf Mallorca inszeniert zu werden. So eingeklemmt blieben wir lieber wo wir waren, untergetaucht in und von der Mitte.
Irgendwann im Oktober verschob sich dann etwas. Zuerst habe ich gedacht, ich hätte mich verhört, als wir die Nachrichten schauten, aber ein Blick zu Mama bestätigte mir, dass ihr der Unterschied auch aufgefallen war. Auf dieser Montagsdemonstrationen war aus „Wir sind das Volk“ überraschend „Wir sind ein Volk“ geworden. Wie war denn das passiert? Und warum? Das hatten die sich doch nicht selbst ausgedacht, oder? Die hat doch wer gezielt unterwandert und lauter geschrien.
Allein bei dem Versuch wäre man damit bei uns gescheitert und zusammengefaltet worden. Wir waren jahrelang sensibilisiert worden, von den Talmüllers dieses Landes, dass das „nie wieder“ gerade dieses Volk meinte, und die Trennung einem Zweck diente, nämlich diesem. Wir hatten trotzdem immer noch überall Nazis sitzen, sie mit den Republikanern gerade erst neu ins Europaparlament gewählt, während die DVU weiter einmal jährlich in der Passauer Nibelungenhalle hockte, und die NDP war auch nicht tot zu kriegen. Und da sind noch nicht einmal die dabei, die an den Stammtischen noch nie ein Blatt vor den Mund genommen haben, oder die Überbleibsel der NSDAP in den Ämtern und übrigen Parteien.
Aus dem Wunsch nach Mitsprache war jetzt eine Forderung geworden, der ich mich nicht mehr ohne weiteres anschließen konnte. Jetzt wurde aus dem Wunsch nach Freiheit wieder Politik von gestern. Wegen eines einzigen, beschissenen Wortes, das ein höchst unangenehmes Echo begleitete. Ein Echo unserer Geschichte, das sich verbot. Der Protest begann an diesem Punkt seine Unschuld zu verlieren, und Daniel saß immer noch hier fest.
© Jens Prausnitz 2022