02. November 2019

„Na. Sie?“
„Ja, Hubert. Ich war einer davon, und damals ungefähr so alt wie du.“
Es wurde totenstill in der Klasse, und selbst die Vögel vor dem Fenster hielten in ihrem Gezwitscher inne.
„Als kleiner Bub habe ich auch noch den schicken Uniformen zugejubelt. Vertrieben haben wir die Juden, als wir ihnen die Schaufenster ihrer Geschäfte einwarfen und die Synagogen anzündeten. Das war genauso ihre Heimat, wie unsere, ihre Wohnungen, aus denen unsere Leute sie dann zerrten. Das waren Vertriebene, Hubert. Die sind nach Übersee geflohen und nie zurück gekommen. In dem Moment haben wir selbst unsere Heimat verloren, nur begriffen haben wir es erst später.“ Er ging zum Fenster und schloss es wieder. „Und warum das alles? Wegen Nachbarschaftsneid und aus Gier. Am liebsten noch Zoll am eigenen Gartenzaun verlangen, wie es schon im Kohlhaas steht.“ Er steigerte sich in einen seiner Monologe hinein, und der Großteil seiner Schüler schaltete bereits ab, gab sich Tagträumen hin, oder genoß einfach die willkommene Pause aus dem Trott.
„Alles haben wir zurück gelassen, und hier von vorne begonnen. Fünf Millionen hat allein Bayern aufgenommen, aufnehmen müssen, dabei war schon für die eigenen Leut nicht genug da. Trotzdem hat man es ertragen, und mehr noch: geteilt.“
„Aber was denn?“, fragte Gisela.
„Wie was?“ Talmüller geriet kurz aus dem Konzept.
„Na was haben sie geteilt, wenn alles kaputt war?“
„Die Erfahrung der Ohnmacht. Niemand hatte viel mehr, außer dem, was er am Leibe trug. So viele hungrige Mäuler. Einen Hunger, den ihr euch gar nicht vorstellen könnt. Wenn man davon träumt pures Fett zu essen. Es gab aber nichts zu essen, keine Arbeit, und es kamen trotzdem immer noch mehr, jeden Tag. Also gründeten die Zuagroasten die Firmen einfach selber. An denen geht ihr heute auf eurem Schulweg vorbei, und glaubt, die wären schon immer da gewesen.“
Ich sah zu Daniel rüber, den es kaum noch in der Bank hielt.
„Wir fingen gemeinsam noch einmal von vorne an, und niemand sprach über das, was wir angerichtet hatten. Von unserem geschwollenen Stolz blieb nichts übrig, das grelle Aufleuchten der Blitzkriege geschah woanders, hat uns trotzdem geblendet, danach blieb nichts als Dunkelheit, an die sich unsere Augen nicht gewöhnen wollten. Statt blank polierter, gewichsten Stiefel und geschniegelten Uniformen gab es jetzt nur noch Löcher, Dreck und Tod, Schutt und Asche, bittere Armut, Hunger und Krankheit. Die Löcher, die es vorher schon in unser Land gerissen hat, die Vertriebenen, die Kulturschaffenden, die Philosophen und Denker, die – -“
Eine Hand meldete sich.
„Ja, was ist denn?“, fragte Talmüller genervt.
„Schreim mir darüba an Test?“
Seufzend schüttelte Talmüller den Kopf und nahm seine Brille ab. Daniel meinte hinterher gesehen zu haben, dass seine Augen feucht glitzerten.
„Geschichte reimt sich. Jetzt wird wieder geteilt, und keiner hat Angst, dass ihm etwas weggenommen wird. Das ist neu. Der Neid ist Geschichte. Und wer erinnert sich?“
„Sie, her Talmüller!“, rief Paul triumphierend.

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