02. November 2019

„Derf ma jetzt gehn? ’s is gleich Pause…“
„Schleicht’s eich“, sagte Talmüller resigniert, aber mit dem Anflug eines Lächelns. Auch wenn ihm niemand richtig zugehört, oder verstanden hatte, was er sagen wollte, so hatte er sich doch etwas von der Seele geredet. Das ist mir jetzt klar geworden.
Während die anderen aus der Klasse stürmten, blieben Daniel und ich noch zurück, Talmüller nahm müde hinter seinem Pult Platz.
„Millionen?“, fragte Daniel ungläubig.
„Ja, ich kann mir das selbst nicht mehr vorstellen. Dabei war ich selbst dabei. Um ehrlich zu sein, ich will mich gar nicht daran erinnern. Wir schufteten tagein, tagaus, bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Sonst hätten wir wahrscheinlich gar nicht schlafen können, mit unseren knurrenden Mägen. So fiel man einfach um wie ein Stein.“
„In einen traumloser Schlaf“, mutmaßte Daniel, und Talmüller nickte.
„Der Albtraum war ja gegenwärtig, wann immer wir die Augen wieder aufmachten. Niemand musste darüber reden, niemand wollte reden. Es war auch überhaupt nicht so freundlich wie jetzt, ganz im Gegenteil, wir wurden nicht gerne gesehen. Aber ist das ein Wunder, wenn man bei jemandem zwangseinquartiert wird? Es hieß ja nicht umsonst Fremdenzimmer, erst die Werbetexter haben später daraus Gästezimmer gemacht. Wir sehnten uns nach Trennwänden. Jedes andere Gesicht erinnerte uns an unsere Schuld, jedes Loch, jede kaputte Wand. So viel Nähe war kaum auszuhalten. Aber sie lehrte uns etwas.“
„Was denn?“, fragte Daniel.
„Demut“, seufzte Talmüller. „Stünde uns jetzt auch wieder gut zu Gesicht.“
„Meinen sie, das jetzt wieder Millionen kommen?“, wollte ich von ihm wissen.
Er zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Vielleicht. Aber jetzt habe ich euch lange genug mit Geschichten von früher gepiesackt.“
Wir schluckten. Dann stand schon wieder Goldhammer in der Tür, um Daniel zu begleiten, aber Talmüller verwickelte ihn in ein Gespräch.
„Einfach von vorne anfangen. Mit nichts“, flüsterte Daniel. „Das wär’s.“

Währenddessen gingen die Montagsdemonstrationen in Leipzig zu unserem Erstaunen weiter, jede Woche waren da mehr Leute, und auch in anderen Städten fingen Menschen an auf die Straße zu gehen. Wir konnten es nicht fassen. Nicht, weil wir ihre Ziele nicht teilten, sondern weil wir mit Demonstrationen im Westen einfach andere Erfahrungen gemacht hatten: Ostermärsche, Pershing II, Nato-Doppelbeschluss, Startbahn West – die Liste war endlos. Politisch bewegten sich durch unsere Proteste nur die Wasserwerfer der Polizei, und zwar auf uns zu. Mal ohne, mal mit Tränengas. Wen glaubten die da drüben damit beeindrucken zu können, wenn bei uns schon nichts ging? Das Politbüro? Gorbi? Der Mauerfall war da als Gedanke noch genauso absurd, wie die Wiedervereinigung.

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