Vor Goldhammer hatten wir dann wenigstens im Unterricht Ruhe, und dort holte uns die Tagespolitik zu unserer Verblüffung dann doch noch ein, wenn auch etwas anders, als wir das erwartet hätten. Es war in einer Deutschstunde bei Talmüller gewesen, der als einziger nicht gleich Unterricht nach Lehrplan machte, sondern von sich aus die Flüchtlinge ansprach. Mit einem Mal waren Daniel und ich etwas aufmerksamer, während Lukas noch immer weiter verträumt in seinem Schulbuch am Rand herum kritzelte.
“Geschichte wiederholt sich nicht“, seufzte Talmüller und machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen, „aber sie reimt sich. Soll Mark Twain gesagt haben.“
„Hä? Aber des reimt sie ja goa ned!“, rief jemand.
„Es ist auch kein Gedicht, Herbert – äh Hubert. Du bist also nicht der einzige, der noch nicht richtig wach ist.“ Das brachte Talmüller ein paar Lacher ein, aber er selbst lachte nicht.
„Was meint ihr, worauf reimt sich das, was sich letzte Woche auf dem Bergerparkplatz abgespielt hat?“
Schulterzucken und Schweigen war alles, was er erntete. Es war wieder eine jener Stunden, wo er aus uns heraus zu kitzeln versuchte, was wir dachten, während wir eigentlich nur nach Hause wollten, oder überhaupt nur raus aus der Schule. Doch selbst das war besser, als in anderen Stunden auf Autopilot zu pauken.
Jemand meldete sich und sagte selbst nicht wirklich überzeugt: „Auf den Wochenmarkt?“
Talmüller legte seinen Kopf schief, wie er es immer machte, wenn er lieber eine andere Antwort gehört hätte. „Ja, aber was haben wir denn von den Flüchtlingen gekauft? Gemüse?“ Er wollte auf etwas hinaus, und würde nicht aufhören danach zu bohren, bevor er schließlich mit einem Hauch von Ungeduld sich selbst und uns die Antwort geben würde.
„Autos!“, rief Paul.
„Ach, es Kindsköpf!“, seufzte Talmüller.
„Doch, der Lukas hat sich einen Trabi gekauft“, verteidigte sich Paul, „sag’s ihnen!“
Lukas sah kurz auf, als er seinen Namen hörte und nickte bestätigend, als er registrierte, dass es wohl nicht um seine fehlenden Hausaufgaben ging.
„Könnt ihr vielleicht ein bisschen weiter in der Geschichte zurück denken, als bis zum letzten Wochenmarkt?“ Dieses Mal wartete er erst gar keine falsche Antwort mehr ab. Talmüller öffnete das Fenster. „Dort auf dem Bergerparkplatz wiederholte sich, was schon 1945 passiert ist. Damals flüchteten auch Deutsche zu Deutschen.“
„Die Heimatvertriebenen!“, schlug Gisela vor.
Talmüller schüttelte schnaubend den Kopf. „Nein, Flüchtlinge. Wir wurden nicht vertrieben, sondern gingen freiwillig bevor man uns hätte vertreiben können. Weil alle längst wussten, was unsere Soldaten tiefer im Osten taten. Wir haben mitangesehen, was sie vorher in unserer unmittelbaren Nachbarschaft getrieben haben und lieber zur Seite gesehen, wenn wieder jemand abgeholt wurde. Die Gelackmeierten waren am Ende wir.“
„Aber des stimmt doch ned, mei Opa hod gsogt, de warn vertriebn worn.“
„Ach ja? War dein Opa denn einer davon?“