Versuch ich es noch mal ausführlicher hiermit, denn in dieser Nacht ist es auf den Tag genau 30 Jahre her. Alles. Er teilt alles in ein Vorher und das Danach, wie es bei den meisten das umgekehrte Datum ist, nur dass ich nicht den 09.11. vom 11.09. trennen kann. Für uns fand der Mauerfall eben schon drei Monate früher statt. Für mich, die wartenden Journalisten, für ganz Vilshofen. Ganz Vilshofen? Nein, denn das nahegelegene Gymnasium leistete tapfer Widerstand gegen die Belagerung durch die Weltgeschichte. Na ja, selbst Widerstand ist ein bisschen zu hoch gegriffen, man ging halt zur Schule und damit hatte es sich.
Wann hat man in einer der hintersten Ecke des Landes schon mal die Gelegenheit hautnah mit Geschichte in Berührung zu kommen, ohne vorher in einen Bus steigen zu müssen? Das konnte man zum ersten und einzigen Mal bequem zu Fuß in der Mittagspause machen. Aber es war ja noch der erste Schultag, und ehe man sich sortiert, die Bücher ausgeteilt und eingebunden hatte, war das Lager schon wieder geschlossen, und die Chance vertan gewesen jemanden von „drüben“ vom Leben dort oder wenigstens ihrer Flucht erzählen zu lassen. Zeitzeugen interviewen, begreifen, Anteil nehmen, verstehen. Es hätte sich uns allen eingebrannt, wäre mehr als nur eine Fussnote am Ende des Sommers geblieben.
Wir Abiturienten aus dem C-Bau waren da in einer komfortableren Situation, als die jüngeren Schüler. Die ersten Schultage hatten immer etwas von Schlange stehen und die Leviten gelesen zu bekommen, wie ernst es jetzt wurde und so weiter und so fort. Das machte auf uns keinerlei Eindruck mehr, wir hatten die gleiche Rede so, oder so ähnlich schon mindestens 7x gehört. Kam man ein paar Tage später, bekam man seine Bücher immer noch, sogar deutlich schneller, und brauchte dafür doppelt so lange, weil es während einer Schulstunde stattfand. Wir wären ja doof gewesen, gleich am ersten Tag auf der Matte zu stehen.
Ich war ja schon die ganzen letzten Tage auf den Beinen gewesen, habe geholfen das Lager mit aufzubauen und mich als Helfer verdingt. Damit hatte ich mir doch eine Pause von der Schule verdient, oder? Und ich konnte ja schlecht alles stehen und liegen lassen, ohne wenigstens vorher einem Flüchtling geholfen zu haben. Was konnte ich denn dafür, dass die Diplomaten so lange gebraucht haben? Endlich war durchgesickert, dass die Ungarn um Mitternacht die Grenze nach Österreich öffnen würden, und wir rechneten mit den ersten Trabis und Wartburgs frühestens bei Sonnenaufgang. Also ging ich so lang wieder nach Hause ins Bett und stellte mir den Wecker, weil die ersten Ankömmlinge wollte auch ich nicht verpassen.
Nur hatte keiner die Rechnung mit dem schnellen Meyer gemacht: der fuhr nämlich einen Toyota Corolla und röhrte schon mitten in der Nacht durch die leergefegten Straßen von Vilshofen. Der Sportwagen passte zwar besser in unser Straßenbild, aber deutlich schlechter in unsere Vorstellung von der DDR. Manche im Westen träumten von so einem Auto, und wären womöglich allein dafür nach drüben gegangen.