11. September 2019 – Nachtschicht

Ich hab die Ankunft also verschlafen wie alle anderen vom Team, bis mich Lukas wachklingelte. Er arbeitete zwar genauso wenig dort wie Daniel, aber ausgerechnet die beiden stellten das Empfangskomitee der ersten Flüchtlinge dar. Nicht der Bürgermeister (im Urlaub), nicht sein Stellvertreter und Nachfolger (im Schlaf), nicht die Journalistenmeute (in Hotels), sondern meine besten Freunde. Und warum? Weil sie eine live Radioreportage angehört hatten, und sich unbedingt mal die Beine vertreten wollten. Und dabei ein Bier trinken.

Das der schnelle Meyer sie weder überfahren hat, noch gleich wieder aus Vilshofen heraus gefahren war, grenzte an ein kleines Wunder. Viel wird nicht gefehlt haben, denn von Passau kommend hat er geistesgegenwärtig gleich die erste Einfahrt nach Vilshofen genommen, die ihn auf die Passauer Strasse und in ihrem Verlauf links unter einer Bahnunterführung hindurch, und dann schon wieder aus der Stadt hinaus führte, unabhängig davon ob er die Ortenburger Strasse nach links, oder die Aidenbacher Strasse geradeaus wählen würde. Glücklicherweise hielt er sich rechts und kam so direkt am Lager vorbei. Wäre er dabei eine Idee schneller gefahren, in etwa so wie unsere Landjugend, dann hätte er ca. 20 Sekunden später das Ortsausfahrtsschild passiert, denn das Lager war in den frühen Morgenstunden noch stockfinster.

Ich lag zu Hause im Bett, aber Daniel kam und klopfte an mein Fenster – wir wohnten ja gleich ums Eck in der Ortenburger. Oder war es nicht Lukas gewesen? Die beiden haben mich so oft geweckt, dass ich mir nicht mehr sicher bin. Unterwegs erzählte mir halt einer von beiden, was sich abgespielt hatte, und ich hab mir die Geschichte seitdem so oft erzählen lassen, weil ich sie immer noch nicht glauben kann, und einfach zu schön finde: Der Toyota überholte Lukas und Daniel auf der Höhe vom Geistler, sie hatten ihn schon vor der Bahnunterführung durch die Stadt röhren gehört. Das Auto kam vor ihnen gegenüber des Bergerparkplatzes sportlich zum Stehen, wo zwischenzeitlich die zur Grenze aufgebrochenen Übertragungswagen eine Lücke im Kies hinterlassen hatten. Eine kleine Staubwolke trieb auf die Straße hinaus, der Motor wurde abgeschaltet, Autotüren geöffnet und kurz darauf zu geschlagen.

Daniel und Lukas kamen näher, und standen einer vierköpfigen Familie gegenüber, ein Ehepaar so in den 30ern, mit zwei müden Mädchen, vielleicht um die 12 Jahre alt. Hier West, dort Ost. Ein Moment der Stille, von beidseitiger Ehrfurcht erfüllt, ein bisschen spannend sogar, aber doch anders als erwartet. Kein Feuerwerk, keine Blaskapelle, sondern zwei übernächtigte Jugendliche in ungepflegteren Klamotten, als man selbst am Leib trug, mit langen, ungewaschenen Haaren. Der mit einer von Bandstickern zusammengehaltenen Jeansjacke trat vor, fasste sich ein Herz und sprach feierlich, mit breitem, bayerischen Akzent, jede Silbe betonend: „Grüß Gott, herzlich Willkommen in Vilshofen.“ Dann entstand wohl eine Pause, und es war deutlich zu spüren, das noch etwas gesagt werden müsse, etwas, das der Situation angemessen wäre. Also räusperte sich Lukas und fügte hinzu: „Hättet’s ihr vielleicht a Zigaretten für uns?“

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