16.08.20

Zwei Minuten nach Mitternacht.

Etwas stimmt mit diesem Pulsoximeter nicht. Der Wert ist jetzt unter 90%, und ich kurz vor einer Panikattacke.
Selbst wenn ich früher auf einer Party eine ganze Schachtel geraucht habe, war meine Lunge am nächsten Tag nicht so belegt. Das Atmen fällt mir viel zu schwer. Ich hätte doch früher mit dem Rauchen aufhören sollen. Es ist ja lange gut gegangen, und es waren schöne Jahre. Man glaubt halt immer, dass es ewig so weiter geht. Es stimmt mich auch nicht hoffnungsvoller, dass wir inzwischen erste Medikamente haben, die den Krankheitsverlauf mildern, wenn ich intubiert werden müsste. Ich habe Patienten gesehen, die sich danach ins Leben zurückkämpfen mussten. Das will ich nicht. Ich will gesund sein, verdammt. Ist das denn zu viel verlangt?

Wenn ich sterben sollte, dann komme ich ganz bestimmt nicht zurück um Nachrichten zu bringen, indem ich Lichter flackern oder Bücher im Regal umkippen lasse. Das verspreche ich. Ich werde auch nicht unter der Treppe hocken und “Huh, huh” machen, keine Sorge. Ich schwöre. Vielleicht räume ich ein bisschen auf, wische Staub oder so. Und wir wissen alle, dass das nicht passieren wird. Was ich euch zurück lasse ist das, womit ich auch gehe: Frieden. Und Frieden kommt vom Loslassen. Kein Sortieren, Staub zu Staub, Asche zu Asche? Um Himmels Willen, lasst die Sachen einfach liegen wo sie sind.

Ich fahre jetzt in die Notaufnahme. Nicht als Pfleger, sondern als Patient. Ich bin gespannt, was sie mir dort sagen werden. Selber begrüße ich unsere ängstlichen Patienten dann gerne mit „Hab keine Angst. Jetzt, wo du hier bist, hast du das Schlimmste schon hinter dir.“ Manchmal war das gelogen, aber meistens half es trotzdem. Aber ich bin kein Kinde mehr. Ich will nicht, dass man mich anlügt, und das werde ich den Kollegen gleich so mitgeben. Wenn es sich nicht verhindern lässt, dann gehe ich, ohne Reue.
Es genügt, wenn sie mir etwas gegen die Schmerzen geben, und ich in einen Nebel gehe, und darin eine Weile herum irre. Im Nebel bewegt man sich vorsichtiger. Sogar Raser finden dann das Bremspedal. Es ist wie im Traum, wenn die Konturen ineinander übergehen, sich nichts mehr vom anderen abgrenzt, alles fließt ineinander, wie Farbe, Zeit und Raum im Innern einer Lavalampe, und wir staunend mittendrin. Alles kann passieren, und doch fürchten wir uns nicht. Deshalb ist es mir jetzt fast egal, auf welcher Seite ich am Ende heraus komme, denn mein Herz ist mir endlich aufgegangen und schlägt in aller Ruhe weiter.

© Jens Prausnitz 2023

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